Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 10

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Nach der Entdeckung einer verwesten Kinderleiche in einem ehemaligen Kinderheim auf der britischen Kanalinsel Jersey melden sich immer mehr Zeugen, die über sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen in der Einrichtung berichten. Die örtliche Polizei vermutet noch weitere Leichen in dem Gebäude. Systematisch seien in dem Heim» Haut de la Garenne «in der Ortschaft St. Martin ältere Kinder von Angestellten angestachelt worden, Jüngere anzugreifen und zu vergewaltigen, berichtet der heute 59-jährige Peter Hannaford. Er selbst sei als Heimkind mit zwölf Jahren» fast jede Nacht «Opfer solcher Gewalttaten geworden. Andere Zeugen berichten, dass sich Heim-Mitarbeiter bei Partys betranken und sich gezielt die» schwächsten Kinder «für sexuellen Missbrauch aussuchten.»Vergewaltigungen von Mädchen ebenso wie Jungen in allen Altersgruppen waren an der Tagesordnung«, berichtet eine heute 49 Jahre alte ehemalige Heimbewohnerin. Insgesamt hätten sich inzwischen mehr als 150 mutmaßliche Opfer und Zeugen von Vergewaltigungen gemeldet, die bis Anfang der 60er Jahre zurückreichen sollen, heißt es bei der Polizei. Mit der Entdeckung weiterer Kinderleichen wird gerechnet, nachdem speziell abgerichtete Spürhunde angeschlagen haben. Bevor in dem Gebäude, das heute eine Jugendherberge ist, bei der weiteren Suche Fundamente aufgegraben werden und Mauerwerk abgetragen wird, muss die Statik untersucht werden, um einen Einsturz zu verhindern.

ICH BIN SIEBEN JAHRE. Die Mauer ist errichtet. Sie führen uns in den Speisesaal. Der Fernseher läuft. Wir starren die Mattscheibe an, den Mann mit dem eckigen Bart. Er hält eine lange Rede. Wir halten aus, wir dösen ein, kippen vom Stuhl, werden wieder hingesetzt. Der Fernseher wird ausgeknipst. Wir stehen auf und gehen in Reihe zum Saal hinaus. Von der Rede ist nichts hängen geblieben als der unheimliche, zuckende Bart.

Im ersten Trickfilm meiner Heimkindzeit fällt zu Beginn des Streifens Schnee. Trickfilmschnee rieselt und tanzt und wallt und schwebt und frohlockt. Ein Hase hoppelt über die Schneedecke an einen Schneemann vorbei. Der Hase hoppelt zu einem Schneereh, an einem Schneebaum vorbei, zu der Hütte im Schnee hin, an die Schneehütte vorbei, die eine russische Blockhütte ist. Unterhalb des Giebels haucht ein Kind von innen her ein Guckloch in die zugefrorene Fensterscheibe, vergrößert es, um Ausblick zu erhalten. Es schneiet, wenn es schneien will und schneiet seinen Lauf, und wenns genug geschneiet hat, so hört es wieder auf. Ja! Mein Hirn ist im Querschnitt ein Schneebaum. Ich bin so alt, wie meine Erinnerungen um mich Ringe bilden. Ich kreise. Mutter. Schnee. Mutterschnee. Es gibt immer ein Vor dem Danach und ein Davor, bei dem was kommt. Die Zeiten springen in meinem Kopf. Ich bin ein Tennisspieler, schlage Erinnerungen wie Bälle, die alle aus mir hervorschießen wie aus einem Erinnerungsautomaten, von mir getroffen und gegen die Erinnerungswand geschmettert sein wollen. Erinnerungsbälle fliegen mir um die Ohren, dass ich die Übersicht verliere, erschöpft aufgeben will, die Erinnerungen springen, hüpfen, rollen, trudeln lasse und am Schreibtisch wie an einem Tennisplatzboden sitze, von Erinnerungsbällen eingedeckt, mein Ansinnen, Übersicht zu bekommen, verlache und nur noch an die kleinen Katzen denke, die die Mädchen trugen. Das Seil in unserer Mitte sehe ich uns ausgehen, höre mich die alten Kinderheimlieder singen, einfache Texte, die ich nie vergesse. Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen, komm mit und versuch es doch selbst einmal.

Ich werde weiter sonderbar. Ich bin Kind unter Kindern. Wir sind am Strand. In Hemd und Hose sitze ich bei einiger Hitze an das steile Ufer gepresst. Ich sehe mich im Schatten. Steil erhebt sich die Küste, wird drohend hoch, scheint sich gegen mich aufzurichten. So schmal ist der Strand. Ein Schwebebalken. Sanft und weich rinnt Sand durch meine Finger. Die Wellen locken, betteln und bitten: Komm doch, Junge, komm. Im Schattenreich der steilen Küste hocke ich am Ostseestrand als einsame, einzeln ausgestellte Strandrand- oder Steilküstenfigur. Das unwillige Kind. Der verstockte Bub. Das Kind, das man nicht überreden muss, weil das Kind sich abweisend bis seltsam benimmt. Das Kind, das sich absondert, sagt, man solle es in Ruhe lassen. Das Kind, von dem niemand weiß, dass es in einer engen Haut steckt, die es abstreifen möchte, nicht abstreifen kann. Erheben möchte sich das Kind. Hin zu den anderen Kindern möchte das Kind. Und sitzt beiseite in sich gekrümmt. Nicht Kind unter badenden Kindern. Die Arme möchte es ausbreiten, ins Wasser laufen, Wassertropfen empfangen, ganze Wasserschübe, unter Wasser geraten, von Wellen bestürmt. Es kann nicht. Es sieht sich nicht einmal mit den anderen Kindern unter der Dusche stehen. Es wird so sitzen bleiben und dem Wasser der Ostsee nicht entgegentreten, dem Wasser jubelnd zurufen, ihm zeigen, wie sehr es das Wasser mag, gern hat, liebt. Vergeblich.

Ich wollte einen Film darüber machen, wie Fantasie und Liebe die Reinheit beschützen, einen Film, in dem man Lügen erzählt, die einer höheren Wahrheit entsprechen. Aber ich wollte auch versuchen, die Schönheit und die Poesie zu erreichen, und dabei ist es egal, ob man die Leute zum Lachen oder zum Weinen bringt. Roberto Benigni, Das Leben ist schön.

UND DANN FALLE ICH zum ersten Mal vom Klo. Von nichts anderem als Grübeln dazu verleitet, urplötzlich ausgehebelt, wie es unter Boxern heißt. Mich schwindelt nicht, auch gibt es sonst keinerlei Vorzeichen. Es passiert; wenn es mir geschieht, trifft es mich heute noch von Zeit zu Zeit ohne Ankündigung. Beim ersten Mal kippe ich allmählich zur Seite, gehe schlichtweg zu Boden, nehme in Zeitlupentempo Schräglage ein, löse mich von der Klobrille, nähere mich dem Kachelfußboden, komme mit Kachelkälte in Berührung, ohne sie zu spüren, verharre liegend in angestammter Sitzhaltung. Steif wie eine Puppe liege ich als denkendes Wesen, die Hände beide noch fest unter dem Kinn, die Augen bewegungslos und weit offen, wie von Sugar Ray Robinson ausgeknockt, dem besten Boxer aller Zeiten und meiner frühen Jahre; oder Floyd Patterson, dem Olympiasieger im Mittelgewicht, der eben erst gegen seinen Landsmann Archie Moore gewonnen hat. Getroffen liege ich am Boden, höre nicht, wie der große Ringrichter mich nach den gültigen Regeln anzählt und darauf für kampfunfähig erklärt. Das Denken, Sinnen, Grübeln kennt keine Regeln. Der Kampf ist bereits gegen mich entschieden, gerate ich in denkende Zustände. Das Umfallen und Wegtreten, der Punkt der Ohnmacht, nichts ist vorherzusehen, wie ich nicht fähig bin, mich aus dem Gefrierzustand meiner Gedanken zu lösen, den Kampf von mir aus zu beenden. Die Handtücher bleiben an ihren Haken. Ich gehe immer wieder к. o. von meinen Grübeleien. Ein Gefecht, das nur einen Sieger und mich als Verlierer kennt. Ein Kampf, der nicht zu gewinnen ist. Richter, die Regelverstöße ahnden, Verwarnungen oder eine Disqualifikation aussprechen, sind nicht zu vermerken. Ich denke nach und grübele allein für mich und werde, wenn ich zu sehr ins Grübeln gerate, von einem nicht vorhersehbaren Schlag, Tief-, Nacken-, Nieren- oder Handwurzelschlag getroffen. Keine Zeit für mich abzuducken. Kein Gegner im Raum zum Sich-am-Gegner-zu-Klammern. Ich kippe, von unlösbaren Gedanken verleitet, seitwärts weg und all mein Denken hat sich damit vorerst. Bin ich erwacht, berapple ich mich, komme zu mir, richte mich mühsam auf, schaue sofort in den Spiegel, überlege angestrengt, was dieses Mal zu dem Vorfall geführt haben könnte, und erinnere mich an nichts als einen Anfangsgedanken, der sich ausgebreitet und zur Ohnmacht geführt hat.

Bei meinem ersten Mal grübelte ich darüber nach, was mit mir wohl geworden wäre, lebte ich nicht als Mensch unter den Menschen, sondern als Küken unter Küken, aus einem Ei gekrochen, unter Küken verblieben, die mit mir groß und Geflügel werden, lustig gackern, nach den Körnern hetzen, anstatt ein Heimkind zu sein, auf dem Klo des Kinderheimes zu sitzen. In der Terminologie der wissenden Fachwelt spricht man von einer Synkope, einem frühen, ersten kindlichen Kreislaufkollaps, gepaart mit plötzlicher Bewusstlosigkeit. Ein andauerndes, mit dem Verlust der Haltungskontrolle einhergehendes, kleines Wegtreten, das heranwachsende Kinder rasch ereilt und ohne besondere Behandlungsmaßnahme von allein wieder aufhört. Das Gehirn, heißt es ferner, werde minder durchblutet, das junge, noch nicht auf absolute Fehlerlosigkeit angelegte System der Versorgung des Gehirns mit Blut leiste sich Betriebsfehler. Die Blutgefäße der Beine zum Beispiel ziehen sich zusammen und mindern somit ihr Fassungsvermögen. Die Herzfrequenz erhöht sich deutlich. Eben noch auf der Klobrille befindlich, kippt der Protagonist infolge von emotionalem Stress zur Seite. Stress, den er sich selber auferlegt, der in meinem Fall vom Denken herrührt, mich in tiefer Denkerpose auf dem Klo sitzend ereilt, wenn ich mich im schönsten Grübeln zu den Geschehnissen der Welt an sich befinde, mir ewige Fragen stelle, von Herzweh getrieben, hinter eine Sache zu steigen versuche, die mit mir und der Welt, vor allem aber mit mir und meinem Verhältnis zur Menschheit zu tun hat. In Herzweh. Ja, es gibt da kein passenderes Wort als den Begriff Herzschmerz, Herzweh als die Ursache für das, was andere pressorische Synkope nennen. Grübeln macht Herz und Hirn schläfrig, sage ich mir jedes Mal neu. Das müde Herz ist ein wehes Herz. Ich bin ein wehes Herzkind. Ein wehes Kind unter wehen Kindern bin ich; im Leben mit sich allein, zugehörig nicht den normalen, sondern den Kindern, die solche oder ähnliche Symptome erleiden. Eine schöne Heimtücke das Ganze, die den Betroffenen am liebsten bei Urin- oder Stuhlentleerung heimsucht. Als nähere Begleitumstände der jeweiligen Ohnmächte nenne ich den selten schönen Schwindel, der mich betört, verwirrt, ablenkt und schließlich ergreift. Für Beobachter beginnen die Augen seltsam zu flimmern. Augenweiß wird sichtbar. Was Döblin die Ohnmacht des Menschen gegenüber der Allmacht der Natur nennt, spielt sich wie folgt ab. Schweiß bricht aus. Die Gesichtshaut wird blass, der Kopf zuckt und wankt und dreht sich, ehe sein Träger in Bewusstlosigkeit sinkt. Ich komme immer unverletzt zu mir. Ich stoße mir meinen Kopf nicht. Ich blute nie und erwache nach dem Koma in Verwirrtheit. Es überkommt mich stets, wenn ich allein bin. Als könnte ich im Leben am intensivsten nur denken, wenn ich allein mit mir bin und von meiner Einsamkeit weiß. Zum Glück bin ich allein und erwache jedes Mal unentdeckt, werde also nicht gepackt und unter die Dusche geschleift wie die armen Kinder im Kinderheim, denen die Ohnmacht am Tisch stehend geschieht, unter den Augen aller, vor allem der Erzieher, denen Ohnmachtsanfälle ein Dorn im Auge sind, die den Betroffenen anbrüllen, als könne der etwas dafür, als veranstalteten wir unsere Ohnmächte aus Jux. Nie wurde je gegen die drohenden Synkopen mit Übungen vorgegangen, wie das simple Ineinandergreifen der Hände, das Auseinanderziehen der Arme, das Strecken und Überkreuzen der Beine, das Anspannen der Muskulatur. Das ohnmächtige Kind wird wie ein Nussbäumchen gerüttelt. Es hat sich, kaum aus der Ohnmacht erwacht und noch stark benebelt, sofort zu erheben und an Ort und Stelle aufzurichten, den Erzieher anzusehen, zu sagen, zu rufen, was es sähe, wo es meine sich zu befinden, wer vor dem Kind stünde, anstatt dass es zu sich kommen darf, ihm sanft aufgeholfen wird, es auf den Boden gesetzt, dort sitzen bleiben und sich erholen kann, ihm ein Glas Salzwasser gereicht und mit ihm in ruhigem Tonfall gesprochen wird, bis es kontrolliert Antwort gibt und wieder bei Verstand ist, sich besser fühlt, hört, spürt, erhebt und am Leben im Heim Anteil zu nehmen wünscht. Im Laufe meines Lebens bin ich darin geübt, mit meinen Ohnmächten umzugehen. Ich spüre nach dem Erwachen Wärme in mir. Das Grübeln wirkt wie Sonneneinstrahlung. Ich erleide im Grunde gleich einem Sonnen- einen Grübelstich. Symptome wie beim Hitzschlag. Erwärmung. Rötung. Austrocknung der Haut. Der Puls geht stark und rasch. Ich falle vom Grübeln in Ohnmacht. Das zentrale Nervensystem hat Ruhe. Alles erholt sich. Die Seele pegelt sich in Normalzustand. Lebensgefahr besteht nicht. Ich liege kühl. Die Haut wird mit kalter Luft versorgt. Ich komme zu mir. Ich weiß Bescheid. Ich kenne die nachkommenden Verhaltensweisen nur allzu gut. Krämpfe suchen mich nicht heim. Arme und Beine bedürfen keiner Massage. Ich komme zu mir. Ich richte mich auf. Ich blicke mich im Spiegel an. Ich muss nicht behandelt werden. Die Ohnmacht ist ausgestanden, die Sauerstoffversorgung des Gehirns ist wieder garantiert. Keinerlei Erschöpfung. Keinerlei spürbarer Schmerz. Kein Kratzer an mir zu vermelden.

Rolf hat seine Mutter nie kennengelernt. Sie starb, als er zwei Jahre alt war. Der Vater ist im Krieg gefallen. Vierundsechzig Jahre vergehen, ehe Rolf zum ersten Mal eine emotionale Beziehung zu seiner Mutter aufbauen kann. Fünfzehn Jahre vorher begegnet ihm Brigitte in Fröndenberg-Frömern im Antik-Cafe. Man kommt ins Gespräch und stellt fest, dass nicht nur beide gebürtige Holzwickedes sondern auch miteinander verwandt sind. Seine Großmutter ist die Schwester von ihrer Urgroßmutter. Man sitzt über Alben und bisher unbekannte Gesichter auf alten Familienfotos bekommen endlich Namen. Der kleine Junge mit Lederhose ist Rolf, weiß Brigitte, und Rolf weiß endlich, wer das junge Mädchen auf seinem Foto ist. Alle Spuren führen in den Landkreis Eichsfeld, Oberthüringen, woher Rolfs Familie mütterlicherseits stammt. In einem Umzugskarton findet sich ein alter Zettel. Auf ihm die Anschrift von Inge, Tochter von Regina, beste Freundin der Mutter Rolfs. Übers Internet spüren sie Inge in einem kleinen Dorf bei Großbartloff auf. Die war platt, als ich mich am Telefon gemeldet habe, sagt Rolf. Hat uns mal vor einundfünfzig Jahren in Holzwickede besucht, seitdem bestand kein Kontakt mehr. Inge kennt Wolfgang, den Hobby-Historiker, der Urkunden und Dokumente, aber auch alte Klassenbücher sammelt. In einem von ihnen sind die Abschlusszensuren der Mutter Rolfs verzeichnet. Und auch Brigitte entdeckt in den alten Papieren Bilder und Schulzensuren ihrer Urgroßeltern. Ein bewegender Moment für den gestandenen Mann. Jetzt kann er das einstige Wohnhaus, die Schule der Mutter besuchen, dem unbekannten Wesen nahe sein. Und darüber hinaus ist er in Besitz eines Fotos gelangt, das den Großvater zeigt, Neunzehnhundertfünfzehn im Krieg gefallen, von Beruf Zigarrenmeister. Unglaubliche Momente, sagen beide und, dass es eine Zeit dauern wird, ehe sie die Erlebnisse verarbeitet haben. Was die gemeinsame Familiengeschichte betrifft, so ist eine gemeinsame Linie bis ins Jahr 1650 zurückzuverfolgen. Man weiß darüber hinaus, warum man sich gleich so sympathisch war und gut verstanden hat, einen tollen Draht zueinander gefunden. Und begeht seither anstehende Feste gemeinsam. Und sucht zusammen Eichsfeld auf. Die Gedanken, sagen beide, kreisen irgendwie anders als vorher, Gefühle ergreifen von ihnen Besitz, die schwer in Worte zu fassen sind.

Es GIBT MOMENTE der Unendlichkeit als den Versuch, das Grenzenlose zu erreichen. Die betroffene Person ist hellwach und hat keine Wahl, sich nicht darauf einzulassen. Es gibt den kurzen Augenblick, in dem alle Erinnerungen angesiedelt sind. Es gibt Erinnerungen, deren Abläufe nicht ausgedacht sein wollen. Es gilt beim Sicherinnern, die nicht bedachte Erinnerung zu beleben, die Nebenarme der vergangenen Zeit zu befahren. Die Unendlichkeit im mathematischen Sinn ist beim Erinnern außer acht zu lassen. Die plötzlich auftretende Form von Erinnerung ist die Begegnung mit dem gefrorenen Zeitzustand. Wir hauchen ein Loch in die vereiste Scheibe und blicken auf das Persönlichste.

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