Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 13

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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ein neues Wort, ein Schreckenswort. Wir wollen niemals in den Werkhof kommen. Das Werk ist eine Zuchtfabrik, ist nur der Hof zum Werk, auf dem sie alle antreten müssen, jeden Tag etliche Male, wenn einer von ihnen was ausgefressen hat, wenn keiner was ausgefressen hat. Der Neue sagt, dass er fett in der Tinte hockt und kein Füllfederhalter ist. Er sagt, wo er herkommt, legt keiner eine Beschwerde ein. Erdulden ist Dort ein Normalzustand. Von einem Griff an die Gurgel geht keinerlei Bedrohung aus, sagt er und sagt, es gäbe Mittel genug, dich nicht anzurühren und hart zu bestrafen. Er sagt, sie haben Dort stille Mittel, die leise und langsam, aber spürbar zugreifen. Er sagt uns nicht, was es ist, was nach den Bewohnern greift. Wenn wir mal Dort landen sollten, warnt er, dürften wir auf keinen Fall aufbegehren. Wer Gutes anrichtet, wird nicht mit Lob, sondern mit Kopfnüssen bedacht. Die Formen von Danksagungen kommen wie jede Gewalt unerwartet aus heiterem Himmel herab.

Hast du Glück, wirst du mit leichten Blessuren beschenkt. Hast du Pech, trägst du Beulen davon und Schmerzen, die im Inneren brennen. Der Neue macht uns Angst. Ich merke mir das Wort Blessuren. Die Woche darauf ist der Neuankömmling wieder fort, dorthin zurück verbracht, von woher er hergebracht worden ist; weil er der Roswitha an die Wäsche gegangen sein soll, wegen der Sehnsucht, diesem unerreichbaren anderen Teil vom Leben. Der Sehnsucht nach Nähe, die am besten hinter hohen Mauern gedeiht, aus deren Stamm merkwürdige andere Sehnsüchte treiben, die einen hinreißen, Dinge zu tun, die nicht erlaubt sind, ohne dass wir unsere Handlungen verstehen müssen. Der Neue hat in Roswitha seine Schwester, Mutter, Oma, Cousine oder Tante gesehen, heißt es. Sehnsucht hat ihn verwirrt. Roswitha habe für ihn mit der Stimme seiner Mutter geredet, er habe Roswitha als Mutter reden gehört. Sanfte Worte der Sehnsucht waren es. Aus dem fremden Mund gesprochene Worte der Sehnsucht waren es. Fremde Worte, die sich einem in die Träume einschleichen, sich dort festsetzen, dich blind werden lassen, taub und blindwütig handeln lassen.

Wenn der Heimleiter die Reihen abschreitet, kann er nichts von den blauen Flecken in den Achseln der Jungen sehen. Wir werden in den Keller geschickt. Wir müssen für alle anderen einsehbar in der Ecke stehen. Wir haben Extrarunden, Extraarbeiten, Extraküchendienste und sonstige Extras zu verrichten. Ob nun mit dem Wischlappen in der Hand die Flure entlang, ob kniend Stufe für Stufe die Treppen hoch und runter oder beim Heimleiter am Klosett mit Seife und Bürste, die uns auferlegten Bestrafungen erledigen wir heiteren Sinnes. Heinz hat das Kneifen eines Tages satt und geht zum Leiter. Der Heimleiter erhebt sich von hinter seinem Schreibtisch, heißt Heinz die Arme anheben, betrachtet ihn kurz, setzt sich, fragt Heinz eindringlich: Was ist, warum bist du hier? Wegen dem Fleck. Du hast dich gestoßen. Ich bin gekniffen worden. Von wem? Vom Erzieher. Irrtum. Du hast dich gestoßen. Ich bin gekniffen worden. Raus. Heinz verlässt das Heimleiterzimmer, ist sauer bis ans Kinn. Der Expolizist ist am nächsten Tag entlassen. Es heißt, er kommt nie wieder. Tegen heckt Fluchten aus. Tegen will aus dem Heim raus. Tegen will fliehen. Das Fliehen müssen ist seinem überdurchschnittlichen Ego geschuldet, denn außer dass Tegen für eine Weile fort ist und mit der Polizei zurückgebracht wird, ist zu seinen Fluchten nicht viel zu berichten. Tegen schwört ab. Wenn es von ihm verlangt wird, sagt er, dass er nie wieder aus dem Heimleben fliehen wird. Und hat die nächste Flucht im Kopf. Tegen wandelt sich scheinbar zum Besseren, gibt vor, ein geläuterter Junge zu sein, erscheint für einige Wochen wie ausgewechselt und von Fluchtgedanken rundum geheilt, ist aber innerlich aktiv wie ein Vulkan. Man muss ein Gespür für natürliche Gefahren entwickeln, sich selber lenken und hat, was anzurichten geht, anzurichten, solange alles in Übereinkunft mit dem inneren Gewissen passiert. Es bedarf keines Lobes von außerhalb, das sich selbst bezeugte Lob ist Ehrung und Ansporn genug. Man ist allein die beste Mannschaft. Jede Flucht ist ein Versuch, sein Ich zu bilden. Am Ende wird aus allen Fluchten persönliche Bestärkung. So in etwa sind Tegens Worte. Wir redeten viel miteinander. Von Tegen wusste ich: Das Heim ist groß wie das Meer. Das Heim ist rund wie eine Kugel. Wir leben in der Kugel wie die Laufmaus auf dem Gitterrad. Wir bewegen das kugelige Heim. Wir bringen das Heim ins Rollen, von innen her erfahren wir das kugelrunde Heim in seiner gleichwertigen Rationalität zu den uns umgebenden Realitäten. Das Nachbarhaus, die Schule, der Sportplatz und alle die Wege dorthin sind wie ein Netz, das sich um unsere Heimkugel spannt. Das Leben draußen kennt Ecken, das Leben drinnen läuft rund, ist sich seiner Rundheit aber nicht bewusst. Wir rollen im Leben voran, wo andere ausschreiten und vorwärtsgehen. Der Gärtner handelt mit Birnen. Die Mutter ist fort. Die Kugel ist rund. Es macht leichter ums Herz, so verrückt von den schweren Dingen zu reden. Von Tegen habe ich leicht denken gelernt. Ihm verdanke ich mein poetisches Talent. Das Heim ist rot. Das Heim ist schwarz. Der Raum ist an die Zeit gebunden. Vom Heimleiter kommt keine Errettung. Das ist die Art, wie ich kurier, sie ist probat, ich bürg dafür, dass jedes Mittel Wirkung tut, schwör ich bei meinem Doktorhut. Der Heimleiter ist ein Subjekt. Er lebt nicht von Eindrücken, er übt Druck aus. Wir existieren als Schatten für ihn. Das schwarze Heim ist rot. Vier gewinnen eher als einer zu dritt. Wir mögen eine Arbeit nicht, also lassen wir uns bestrafen. Wir sind zur Strafe aus der Heimarbeitsgruppe genommen, in den Strafkeller befohlen, wohin wir freudig marschieren, weil im Keller unterhalb der Treppe unsere enge Nische eingerichtet ist, wo wir dann selig waren.

Erneut ist im Südkreis ein ausgesetzter Säugling gefunden worden. Nach Polizeiangaben wurde das in ein Handtuch eingewickelte Mädchen am Freitagabend durch einen Bewohner im Flur eines Mehrfamilienhauses an der Bahnhofstraße in Gangelt-Birgden entdeckt. Laut Untersuchung der Ärzte ist das etwa eine Woche alte Baby in einem guten Gesundheitszustand. Die Suche nach den Eltern verlief zunächst ohne Erfolg, wie die Polizei am Pfingstmontag mitteilte. Der Säugling kam unterdessen in eine Kinderklinik in Mönchengladbach. Das Jugendamt der Stadt Heinsberg übernahm die Betreuung. Obwohl während des Wochenendes Hinweise aus der Bevölkerung eingingen, hat die Polizei bislang keine konkrete Spur zu den Eltern oder Personen, die das Baby in dem Flur ablegten. Man suche weiter nach Zeugen, die möglicherweise Auffälliges bemerkt haben, hieß es. Die Polizei fragt: Wer kann Angaben zu der abgebildeten Babybekleidung und zu dem Handtuch machen? Wem ist in den vergangenen Tagen aufgefallen, dass eine hochschwangere Frau nicht entbunden hat bzw. keine plausible Erklärung zum Verbleib des Kindes hat? Wer hat am Freitagabend zwischen 17.30 Uhr und 18.10 Uhr auf der Bahnhofstraße verdächtige Beobachtungen gemacht? Die gesuchte Person könnte sowohl mit einem Fahrzeug unterwegs gewesen sein, das Kind auf dem Arm getragen oder es in einem Kinderwagen gefahren haben. Anwohner teilten der Polizei mit, dass ihnen zwei Frauen gegen 17.45 Uhr auf der Bahnhofstraße aufgefallen seien. Sie saßen auf der Rundbank, die um einen Baum auf dem Parkgelände an der Ecke Bahnhofstraße und Großer Pley angebracht ist. Ob die beiden Frauen mit dem Säugling in Verbindung stehen, ist zurzeit nicht bekannt, erklärte die Polizei. Aber eventuell hätten sie wichtige Beobachtungen gemacht, die den Beamten bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten. Bereits im Januar war in Karken ein Baby ausgesetzt worden. Ein Unbekannter hatte an einer Haustür geklingelt, das Kind zurückgelassen und war geflüchtet. Die Hausbewohner fanden den Säugling in einer Umhängetasche mit niederländischer Aufschrift.

Da die Grenze nicht weit ist, vermuten die Ermittler, dass das Baby aus dem Nachbarland stammt.

ICH HABE KEINEN BRUDER, keine Schwester. Ich schreibe all die wundersam grausigen Geschichten, die Tegen mir erzählt, im Hirn auf. Sie leben mit Herzblut in meinem Körper. Geschichten von Rittern, Jungfrauen. Kämpfe mit scharfem Schwert. Ideale des ritterlichen Lebens. Heimlich unter der Treppe, in der unwürdig leuchtenden Kellernische. Die Verehrung der auserwählten Frau. Die Hingabe an sie und Dienstbarkeit dem jeweiligen Herrn gegenüber. Kampf, Tapferkeit, Rechtschaffenheit, Nächstenliebe, Minnegesang, Lieder und Abenteuer. Es ritt ein Reiter sehr wohlgemut, zwei Federn trug er auf seinem Hut, die eine war grün, die andere blank, mich däucht, mich däucht, Jungfer Dörtchen ist krank, die Glöcklein, die läuten rosenrot, mich däucht, mich däucht, Jungfer Dörtchen ist tot, er hat einen Säbel von Golde so rot, damit stach er sich selber tot, sie legten beide in einen Sarg und ließen sie nach dem Kirchhof tragen, es dauerte kaum dreiviertel Jahr, da wuchs eine Lilie auf ihrem Grab. Ich besitze ein Ritterschwert. Es ist ein aus Latten gefertigtes Kreuz, das ich nicht hergebe, mit dem ich schlafe, das mir Ritterträume, Helden schenkt. Ich bin durch Tegen in die märchenhaft mythische Welt geworfen. Ich heiße Parzival, Tristan, Isolde ist das Mädchen, von dem er träumt. Den Namen Walther von der Vogelweide sagt Tegen mit Glanz in den Augen, lehrt mich Gefühl, Leidenschaft für die Natur, so arm und mittellos einer ist, den Launen der Herren ausgeliefert. Von Heim zu Heim ziehen wir. Mit Liedern überleben wir, voll der Überzeugung, dass es sie gibt, die bessere Welt unter ehrlichen Rittern, die Welt, die uns gewogen ist. Gleichheit den Gleichen, sagen wir anstelle von Gute Nacht. Wider den Schein und Betrug, töne ich hinterm Haus beim Fechtspielen. Ich stürze mich ins Getümmel. Ich bin ein Ritter. Ich diene keinem Kaiser. Ich bin auf der Reise durchs Land, um mein Schwert in Einsatz zu bringen. Seine Ritterdichtungen trägt Tegen im leisen, bedrohlich kräftigem Ton vor. Als stünde er auf dem Schafott, als ginge es um Leben oder Galgentod. Benimmt sich untertänig, krümmt sich mir zu Füßen, als wäre ich sein König, schaut von unten zu mir herauf, dass mir seltsam ist, ich ihm zum Gefallen königliche Gesten vollführe. Hell und eindringlich, klar singt Tegen. Seine Pupillen werden dunkelbraun, sein kuschelweicher Lockenkopf kräuselt sich, der eh dunkle Teint, durch den er sich von uns blassen Kindern im Heim abhebt, verfinstert sich, spricht er von König Artus, die Ritter der Tafelrunde. Gawain, Lanzelot. Ich ziehe mit dem Schwert. Ich bin auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Ich beginne im Kellerloch mein Rittertum. Ich verschlinge Cervantes' Don Quijote. Ich lache und leide mit dem irren Ritter. Ich begeistere mich für Ritterrecken und den Zauberring. Ich bewohne feste Burgen. Ich habe teil an sagenhaften Festen, regelrechten Rittergelagen. Es gibt Fisch, Eier, Nudeln, Reis und Backkartoffeln zu Schweinebauch, Rinderbraten. Wild. Hase. Hirsch. Berge von Steaks und rohem Schinken, Sauerfleisch und Kümmelknacker, alles aus heißen Töpfen. Es riecht nach Safran, Pfeffer, Zimt, Vanille, Ingwer, Nelken, Lorbeer, Muskatnuss und Rosmarin, Liebstöckel, Basilikum und frisch gehackter Petersilie. Wir haben Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Es ist das Schlaraffenland. Unsere Mägen knurren. Wenn Tegen redet, genügt ein Fingerschnippen, wir greifen Äpfel, Bananen, Melonenstücke. Die Schwerter stecken in süßer Grütze. Karamell und geraspelte Zartbitterschokolade zergehen auf meiner Zunge. Ich weiß vom Krokant, bevor ich ihn koste. Ich weiß von kandierten Veilchenblättern. Ich kann eine Speise, die ich zuvor noch nie gegessen, mit verbundenen Augen durch die Beschreibung Tegens identifizieren.

Heute interessieren mich Rittergeschichten nicht mehr. Ich wundere mich über Leute, die im Erwachsenenalter noch Ritter spielen. Mir graut es vor deutschen Männern und Frauen, die mit Kollegen Gemetzel nachstellen und übers Wochenende in nachgestellte Schlachten ziehen. Dickbäuchige Spießer, aufgeblasene Jungfrauen, miese Zauberer, lächerliche Riesen und Recken, die sich idiotischen Gestellen nähern, die auf Knopfdruck Gase ausstoßen und Drachen sein sollen. Ich grolle, wenn sich die Kinos füllen, mit Zuschauern in Ritterkluft, für ein paar Piepen im Vorraum erworben. Wenn fließbandhergestellte Kinder in Buchläden Völkern, um unter professioneller Anleitung ritterliche Übungen auszuführen, die untergegangene Rittersitten darstellen und Humbug sind, möchte ich mit meinem Kinderschwert aus Lattenholz dazwischenhauen, austeilen, stechen und Tegen herbeizaubern, ihn vorne hinstellen, mit dem von mir verschont gebliebenen Jammerrest irregeführter Kinder in Tegens Ritterwelten steigen.

WER ABHAUT, HOFFT, dass er die Chance hat, dabei so unbemerkt zu bleiben, wie er sich einredet. Zu fern, zu entrückt dem Draußen, zu blass von der Gesichtshaut her und zu einheitlich schlecht gekleidet, fallen alle Entflohenen auf. Du wirst am gesenkten Blick erkannt. Sie erkennen dich an deiner Art, wie du vorgibst, die Angst vor dem Entdecktsein überwunden zu haben. Dein Versuch, wie sie zu sein, verrät dich als einen, der nicht wie sie ist. Freilich lenkt dich die Angst, gefasst zu werden. Angst steht dir im Gesicht geschrieben und lässt dich huschen, seitwärts in die Büsche statt auf breite Wege und Bürgersteige. Von einem Kerl angesprochen, der dich mitnehmen will, von dem du meinst weit fortgefahren zu werden, wirst du im Heim wieder abgeliefert, ohne dass der Mann mit dir ein Wort gewechselt hat. Sie sehen dir an, woher du bist. Es geschieht dir Unrecht, wenn du ihnen eine große Geschichte auftischst. Du bist das Heimkind. Schauspielerische Fähigkeiten nutzen dir nichts. Was du auch vorgibst zu sein, sie durchschauen dich, bringen dich zurück ins Heim. Tegen ist für Tage weg. Er ist bei einem Pfarrer gelandet. Die graue/grausame Eminenz. Ein komischer Typ. Tegens Tage beim Pfarrer kommen ihm wie Jahre vor. Der Pfarrer nimmt sich seiner an, fragt ihn nicht aus, wiegt ihn in Sicherheit, mit seinen drei schönen Töchtern im Haus, die mit Pferden Umgang haben, an Schneewittchen erinnern, mit ihrem langen schwarzen Haar, mit ihrem Rot der Münder, und ihren Fingern, die zu sechst die Orgeltasten schlagen. Sechs Füße auf den klotzigen Pedalen der Tretorgel, das Röhren des Blasebalgs einer fernen Märchenwelt. Klänge, Schönheit, Düfte. Tegen erwacht früh. Tegen tritt an. Tegen darf sich am Hofe nützlich machen, den Boden zum Pfarrhaus von Kisten und Stapeln befreien; eine staubige unbequeme Arbeit, bei der er sich nicht aufrichten kann, unterm engen Dach mehr robbt als kriecht; eine Arbeit, die ihn bestärkt, in der Hoffnung belässt, dass ihm keinerlei Gefahr droht. Tegen, der Übervorsichtige, meint sicher zu sein. Mistet den Stall aus. Schleppt Ladungen Dung ins Freie. Bekommt Suppe. Sitzt am Tisch mit den Töchtern, faltet die Finger seiner Hände, spricht dem Pfarrer nach, gibt vor, nachzusprechen, amüsiert damit die Mädchen. Und doch weiß der Kirchenmann, dass Tegen ein aus dem nahen Heim Geflohener ist. Nur, solange er dem Pfarrer nützlich ist, stört der sich nicht dran, nutzt dessen Anwesenheit. Denn wo ihrer sieben Mäuler satt werden, wird es die kleine Fresse auch. Drei Tage später ist die grobe Frühjahrsoffensive getan, es wird höchste Zeit, den kleinen Flüchtling im Heim abzugeben. Der Heimleiter verspricht, Gnade vor Recht walten zu lassen. Dem Heimleiter gefällt die Art, wie der Pfarrer buckelt. Ein wenig anders, sagt sich der Herr Heimleiter, und er wäre ein Diener Gottes, Pfarrer im Dorf geworden, nichts anderes als Hüter über Seelen schwarzer Schafe ist er bereits und hat sie alle vor Unheil zu bewahren und mit Geschick auf rechte Pfade zu führen. Strafe müsse folgen, gemahnt der Herr Heimleiter, allzu viel Milde spricht sich herum und hat den Aufruhr zur Folge. Er werde im Rahmen bleibend handeln, dieses dem Kirchenmann zur Gewissheit, Sanftmut walten lassen. Tegen wird ins Heim zurückgebracht. Tegen wird bestraft. Was die schlimmste Strafe ist, Tegen hat einem Mann vertraut, dessen Töchter wegen. Man nennt es Liebe. Fünf lange Tage in Freiheit ausgehalten und dann büxt Tegen die erste Nacht darauf wieder aus, umschleicht das Pfarrhaus, sucht eines der Mädchen für sich zu gewinnen, wird von einem Mädchen hingehalten, derweil die zwei anderen den Vater unterrichten, der Anzeige erstattet. Wird auf der Polizeistation verhört, über Hausfriedensbruch und Belästigung unterrichtet, ans Heim zurück ausgeliefert, wo er dann anzutanzen hat; im Direktorenzimmer vorm Schreibtisch des Herrn Heimleiters, von zwei Fremden flankiert, die keinerlei Mimik besitzen. Der Heimleiter erhebt sich, sagt nichts, lässt die fremden Herren reden, die Tegen aufzählen, was Gutes getan wurde, aber umsonst geblieben sei. Dieses ständige Ausbüchsen, stöhnt der Herr Heimleiter. Alles hat seine Grenzen. Wer sich verschlimmbessert zum Schlechten, für den sieht es nicht gut aus. Der Herr Heimleiter blickt zu den beiden Herren am Tisch. Einer der Herren steht am Fenster, die Hände auf den Rücken gebracht, sagt er: Wir kümmern uns um dich. Wir nehmen dich mit uns und werden dich andernorts übergeben. Die Mühlen mahlen die großen und die kleinen Körner gleichermaßen fein aus. Tegen wird von den Herren zu einem Wagen geführt. Sie fahren mit ihm fort. Wir drücken unsere Nasen an den Fensterscheiben platt. Es wird von einem Heim für Unerziehbare gemunkelt. Eines fügt sich zum anderen. Es kommt mit Tegen dahin, wo es besser nicht mit einem Heimkind hinkommen soll. Niemand weiß zu sagen, wohin sie Tegen fahren, was sie mit ihm vorhaben. Man bekommt es nicht raus. Es wird behauptet, er habe eine Scheune abgefackelt, sich neben der brennenden Hütte erwischen lassen. Er kommt in ein Heim für Schwererziehbare. Ich bin allein und bin durch ihn gewappnet für die anstehende Adoption. Falls ich einmal adoptiert werden sollte, müsse ich mir Folgendes unbedingt merken: Für den Fall der Fälle hebe draußen vor dem Haus eine Schatzgrube aus. Lege, was du entwenden kannst, dort hinein. Schnapp dir den Beutel zur Flucht. Flüchte, bevor sie dich ans Heim zurückgeben können. Gehe brav zu Bett. Lass die Tür angelehnt. Begründe den Umstand mit Angst vor geschlossenen Räumen, dann wirst du hören, wie sie wirklich über dich denken, und rechtzeitig wissen, wann sie dich abschieben wollen. Ich erinnere Tegens Augen, sein tiefschwarzes Wuschelhaar, das die Erzieherinnen für ihn einnimmt. Sie halten ihn für einen Jungen, aus dem ein gut aussehender Mann wird. Die Mädchen tuscheln gelegentlich hinter vorgehaltener Hand und benehmen sich wie umgestrickt, wenn Tegen sich zu ihnen stellt, zu ihnen spricht.

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