Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 22

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Name des Kindes

Das Kind erhält den Familiennamen des Annehmenden. Nimmt ein Ehepaar ein Kind an, erhält es den Familiennamen der Ehegatten. Auf Wunsch des Annehmenden kann das Kind einen weiteren Vornamen erhalten. Das Organ der Jugendhilfe kann in besonderen Fällen bewilligen, dass das Kind seinen bisherigen Familiennamen behält.

WAS ICH DUNKEL am Horizont auf mich zukommen sehe, lässt sich eines Tages nicht mehr abwenden. Ich habe meinen Nachnamen gegen den der Adoptionsgewaltigen einzutausehen. Ich soll meinen angestammten Nachnamen hergeben und darf nicht mehr gerufen sein, wer ich gewesen bin. Ich sehe mich wie Cassius Marcellus Clay, Sohn eines Malers in Louisville, Kentucky und als Clay und Superboxer in der Welt bekannt geworden, gezwungen, einen anderen Namen anzunehmen. Der Mann, der in Rom olympisches Gold im Halbschwergewicht geholt hat und nicht länger Clay heißen will, sondern Muhammad Ali, tauft sich selber und freiwillig um. Ich aber habe meinen Nachnamen wie einen geklauten Gegenstand abzugeben und werde mein Leben lang nicht wieder Kong Fu-Runkel und Ritter Runkel von Rübenstein gerufen, auch wenn sie mich damit im Heim und in der Klasse gehänselt haben. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, hat Gewalt vom großen Gott, heut wetzt er das Messer, es schneidt schon viel besser, bald wird er drein schneiden, wir müssens nur leiden, hüt dich, schönes Blümelein. Ich stehe im dunklen Wohnzimmer der Adoptionseltern, die Großmutter werkt in der Küche. Der Adoptionsvater sitzt hinterm Schachbrett, die Adoptionsmutter sitzt ihm zur Seite, sagt freudig: Ja also, und es folgt die kurze Erklärung, dass nicht bleibt, was ist, und nichts für immerfort eingerichtet ist auf Erden, vor allem so ein Nachname bei einem Heimkind, viel hunderttausend ungezählt, was unter die Sichel fällt, rot Rosen, weiß Lilien, beide wird er austilgen, ihr Kaiserkronen, man wird euch nicht schonen, hüt dich schönes Blümelein. Ich möchte die Adoptionsmutter, den Adoptionsvater Mam and Dad nennen, wie ich das in einem Kinofilm aufgeschnappt habe. Ich weiß nur allzu gut, ich werde damit nicht durchkommen, trutz Tod, komm her, ich furcht dich nit, komm her und tu ein Schnitt; wenn er mich verletzet, so werd ich versetzet, ich will es erwarten, im himmlischen Garten, freu dich, schönes Blümelein. Also höre ich zu und bereite mich vor, sage auf die Frage, wie ich denn zukünftig die Adoptionseltern rufen möchte, dass ich sie Mam and Dad heißen will, worauf eine schwere Pause entsteht. Die Adoptionsmutter ist außer sich und sichtlich verwirrt, ihr geht der Atem aus, sie schaut zum Adoptionsvater hin, so fragend ihr Blick wie der Blick nur sein kann. Mamm gesprochen und Dett wie Dad aus dem Englischen, kläre ich beflissen auf. Umsonst. Der Adoptionsvater rückt an seinem Stuhl, die Adoptionsmutter ist zur Stube hinaus und weilt für kurz im Flur, um dann schmetternd mit: Mammdett kommt nicht in Frage, zu erscheinen und mit Begriffen wie Hirngespinst, Nichtganzdichtimkopf und Wosindwirdenn jeden weiteren Disput abzuwürgen. Was heut noch grün und frisch da steht, wird morgen weggemäht, die edel Narzissen, die englischen Schlüsseln, die schön Hyazinthen, die türkischen Binden, hüt dich, schönes Blümelein. Ich argumentiere aussichtslos mit The Mamas and the Papas, die zu der Zeit an der Spitze meiner Topbands des Jahres stehen, summe California Dreaming, den damals sehr bekannten Ohrwurm, und Monday Monday, um zum zweiten nach dem ersten vergeblichen Versuch Mama und Papa als meinen zweiten Vorschlag einzureichen. Mama und Papa klingt den beiden genauso kalt und befremdlich, als hätte der Sohn mit den Seinen nichts zu schaffen. Behüt dich, Kind. Vati und Mutti soll es sein, entscheidet die Adoptionsmutter, und ich kann da maulen, wie ich will, anführen, dass alle Kinder, die ich kenne, ihre Eltern Vati, Mutti nennen. Eben drum, triumphiert die Adoptionsmutter, klug ist, wer sich nicht über die allgemeine Norm erhebt. Und also habe ich Mam and Dad wie Mama und Papa zu lassen, mir bleibt nichts weiter übrig, als gegen meine tiefen, innersten Wünsche Vati und Mutti zu akzeptieren, der Vernunft und allgemein üblichen Geflogenheit ein Okay zu geben. Tonlos höre ich mich Einverständnis geben, ziehe als Verlierer von dannen, fühle mich unterlegen, bringe den neuen Nachnamen stets mit meiner ersten Niederlage in Verbindung. Rock ist weg, Stock ist weg, liegst im Dreck, jeder Tag war ein Fest, jetzt haben wir die Pest, nur ein großes Leichenfest, das ist der Rest, leg nur ins Grab dich hin, oh du lieber Augustin, alles ist hin. Aber Gretel weinet sehr, hat nun keinen Hansel mehr, ich kriege Muttivati nicht leicht über die Lippen, kann die Adoption lang nicht Vati und Mutti zu den beiden Adoptionsoberen sagen; es widerstrebt mir, im Kopfe Vati und Mutti zu denken. Und um mich herum heißt es: Grüß uns fein die Mutti und Du hilfst Deinem Vati hoffentlich sehr.

Ich verreise mit dem Vati nach Halle an der Saale. Wie schön, sagt die Nachbarin, so einen Vati hat nicht jedes Kind, da wird die Mutti wohl zu Hause nicht lange auf eine Karte aus dem schönen Chemiestandörtchen warten müssen. Und alle Bekannten wissen, wie ich mich auf die Reise mit dem Vati freue, der Vati wird es schon machen, die Mutti hütet das Heim, valeri. Ich soll mit dem Vati schöne Fotos machen, die dann die Mutti ins Album kleben wird, weil sich auf der Welt die Muttis über schöne Fotos von der Reise am meisten freuen. Und dann bringt mich die Mutti mit dem Vati zum Bus und später reisen Vati und Mutti mit mir in dem Bus nach Wismar. Und wenn ich allein wegfahren darf, wird der Vati nicht mit zur Bushaltestelle kommen, sondern die Mutti und die Großmutter werden mich zum Bus bringen und dort verabschieden. Der Vati kommt nur mit, wenn die Mutti das vom Vati verlangt. Der Vati weigert sich auf seine Art, sagt, er habe zu tun, müsse Schularbeiten korrigieren. Und kann er sich nicht herausreden, muss er mithangen und ist eingefangen, um am Bus einen würdigeren Eindruck zu liefern, und liefert nur kurzes Kopfnicken, das die Mutti ärgert. Die Mutti mag Abschiede des Abschiedskusses wegen. Die Mutti leidet darunter, dass der Vati dem Jungen keinen Abschiedskuss gibt. Und macht der Vati sich auf eine Reise, müssen wir alle am Bus stehen, und die Mutti ruft dem Vati zu: Ja, will denn der Vati der Mutti keinen Abschiedskuss geben? Und hält dem Vati die Wange für den Abschiedskuss hin. Aber der Vati will nicht und ist dann in den Bus verschwunden. So macht man das, sagt die Mutti zum Vati, nimmt mich her, will, dass ich mich ihrer Kusswange nähere, sie küsse, meine Lippen zumindest auf Muttis Wangenhaut drücke. Ich setze meine Lippen auf die fettcremige Wange der Mutti. Ich würde lieber ein Massai sein, der dem Besucher in die Hand spuckt, an der Hand des Besuchers riecht, und niemand stört sich an meinem Benehmen, wie man sich in Tibet nicht am Tibetaner stört, streckt er dem Fremden seine Zunge entgegen und tippt mit dem Finger seiner linken Hand hinterm Ohr tickend an den Kopf, als würde er dir einen Vogel zeigen. Ich riebe viel lieber dem neuseeländischen Maori die tropfende Nase, als mit meinen Lippen in Mutticreme zu versinken. Mit steigendem Alter berühre ich die Wange der Mutti immer weniger, meide den Muttikuss, wo ich ihn nur meiden kann. Wie ich versucht bin, nicht Mutti und Vati zu sagen. Aus Mutti wird Mutt und Mu, aus Vati Vat und Va und später kommt da kein Vatimutti mehr über meine Lippen, nur noch ein wie Vati oder Mutti klingendes Brummein. Es wäre doch wohl das Mindeste, was sie einem abverlangen könne, was ihr zustünde, sagt sie, geküsst zu sein und als Mutti angeredet zu werden. Das kleine Opfer werde ich doch aufbringen, ich könnte mit dem Bus verunglücken, was sie mir nicht und keinem Menschen wünscht, und stürbe ohne Abschied und Kuss, den sie Küsschen nennt.

Ich sehe keinen Menschen je zu uns herüberblicken, um sich daran zu ergötzen, wie das Adoptivkind sich von seiner Adoptionsmutter verabschiedet. Es ist den Leuten vollkommen unwichtig. Ich vermeide in der Schule, wo ich einige Male vertretungsweise auch vom Adoptionsvater unterrichtet werde, Vati zu ihm zu sagen. Ich räuspere mich, schnippe mit den Fingern, um seine Aufmerksamkeit zu erregen und nur nicht Vati oder gar Sie zu ihm zu sagen, den ich sonst ja duze und zu Hause nicht einmal Vati nennen brauche. Es ist für mich kein Werden und Glücklichsein, wo stets Äußerlichkeit und Anstand zu beachten sind, die Oberschenkel übereinandergeschlagen, Ellenbogen nicht aufs Tischtuch gehören, man sich nie lümmeln darf. Ich schwärme für Malcolm X, wovon die Familie nichts weiß. Einer wie Malcolm X gibt der Mutti keinen Abschiedskuss mehr, Malcolm hat sich niemals von seiner Mutti zwingen lassen, am Pilgerreisebus nach Mekka ihr die fettige Cremewange zu küssen. Malcolm X wäre, von seiner Mutti zum Abschiedskuss gezwungen, nicht Malcolm X geworden. Ich sitze im Bus am Fenster, weiß die Adoptionsmutter draußen, weiß, dass sie zu mir schaut und will, dass ich ihr durch die Scheibe winke und Handküsse zuwerfe. Ich mache das eine Zeit lang. Aber dann schaue ich nicht mehr gerne zu ihr hin, spiele Neugierde, blicke zur anderen Seite, nach hinten und konzentriert in Busfahrtrichtung, um nur nicht winken zu müssen. Später versuche ich die Adoptionsmutter abzuwimmeln, indem ich sage, dass ich längst groß genug wäre, dass man mich nicht zum Bus bringen müsse, dass ich den kurzen Weg gut und gerne allein schaffe, dass die anderen Kinder schon abfällig reden, was die Mutti nicht abhält, weiterhin zum Bus zu kommen. Was ist schon dabei, wenn zwei sich küssen, da ist doch nichts dabei, das kann ruhig jeder wissen, weil es sich so gehört, wie sie betont, dass die Leute nichts Falsches denken. Und hält dem Jungen noch lange die cremige Wange hin, bis ich mich ihrer zu erwehren weiß, die Großmutter ins Spiel bringe, von ihr zum Bus gebracht werden will, die nicht von mir geküsst sein will, nur gute Miene macht und den Rückweg antritt, kaum dass der Bus zu sehen ist. Die frische Luft, sagt sie, tue ihr gut. Der Großmutter genügt, dass ich sie, wenn mir danach ist, kurz umarme und Tschüss zu ihr sage. Die Großmutter lacht herzlich auf, bin ich versucht, ihr scherzhaft einen angedeuteten Kuss zu senden; und findet albern und zuckt zurück, hat, wie sie sagt, wohl lange vor dem Krieg mal einen Kuss zum Abschied bekommen und kann sich nur dunkel daran erinnern; weiß nicht einmal mehr, ob oder wie er und sie sich je geküsst haben, ihr im Krieg gefallener Mann, der so wenig ein Küsser gewesen ist wie sie eine Küsserin und der ohne Gruß und Kuss aus ihrem Leben geschieden ist.

Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichmäßigem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welt der Zeit von der Wiege bis ins Grab. Sie lebten im selben Land, in derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus; was außen in der Welt geschah, ereignete sich eigentlich nur in der Zeitung und pochte nicht an ihre Zimmertür. Stefan Zweig in: Die Welt von gestern.

ICH WERDE MEIN EIGEN NICHT. Ich bleibe ein Pseudonym. Ich bleibe für mich, lebe unter dem falschen Namen der Adoptionseltern, den ich ertragen will, bis ich groß genug bin und in einem Alter, den Adoptionsmantel abzulegen. Mit über fünfzig Jahren erst lege ich den Mantel der Adoptionszeit ab, trage meine künstliche Haut zu Grabe, nehme innerlich den Namen der Mutter, des Vaters an, den Namen, wie er in meiner Geburtsurkunde eingetragen worden ist, von Heim zu Heim getragen, durch die Adoption dann ad acta gelegt, um nicht mehr in der namentlichen Hülle der Adoptionseltern wie in einer Zwangsjacke zu stecken und unter falschem Namen beerdigt zu sein. Ich empfinde mich mit dem Adoptionsnachnamen unter fremder Flagge unterwegs. Ich sollte unterm falschen Namen neue Wege eröffnet bekommen und habe mich gegen ihn benommen, mir Wege verbaut, die Tore rücksichtslos zugeschlagen, durch die ich als Heimkind hätte nie gehen können, weil die Adoptionsmutter mich nicht zur Schwester nach Stralsund geführt hat zum Beispiel, und ich nicht mit der Schwester an der Hand dann zur Mutter, zum Vater aufbrechen konnte. Ach, Schwesterlein, wann gehn wir nach Haus, morgen, wann die Hähne krähn, wollen wir nach Hause gehen, ach Brüderlein, gehen wir nach Haus, ach, Schwesterlein, wie bist du so blass, dieses macht der Morgenschein mir auf meinen Wängelein.

Im Heim hätte man mich informiert, würde ich nach Verwandtschaft gefragt haben. In der neuen Familie herrschte Mutterverschweigen. Mir ist ein Dach aus Schweigen über meinem Haupt gezimmert worden. Das Schweigen deckte alle Tatsache zu. Ich erfuhr nicht, dass unweit von uns an derselben Ostseeküste meine Schwester lebt. Schweigen deckte mich zur Nacht zu. Schweigen erweckte mich am Morgen. Ich wusch mich mit dem Wasser und der Seife des Schweigens. Ich lebe unter fremdem Namen und ich esse Schweigen zu meiner Person als Morgenbrot und bekomme Schweigen als Mittagsmahl vorgesetzt, zum Abend hin ist mir ihre Verschwiegenheit dick aufs Butterbrot geschmiert. Ich werde im Stoff des Schweigens eingekleidet und habe mich in Jacke wie Schuh, Hose wie Weste und unterm lustig anmutenden Pudel auf dem Kopf als Persona non grata in der Hülle des Schweigens wohlzufühlen. Ich bekomme einen neuen Namen und verliere mit ihm meine Unverletzlichkeit. Ich lebe unter falschem Namen. Ich werde durch die Adoptionseltern diplomatisch vertreten, sie nehmen an meiner Stelle Aufgaben wahr, die mich als Heimkind entrechten. Ich werde Gast in ihrem Staate. Ich habe das Kinderheim nach ihrem Willen nicht mehr zu betreten. Sie sind ab nun das gastgebende Land und fühlen sich ermächtigt, über meinen Kopf hinweg das Kinderheim zum Sperrgebiet zu machen. Jeden Besuch des Heimes meinerseits werten sie als Grenzverletzung. Geben vor, mich gegen Beschädigungen durch Heimkontakt zu Heimkindern zu schützen. Ich möchte ausbrechen und sitze in ihrer Botschaft als alleinige Geisel fest.

ICH SETZE DER ADOPTIONSMUTTER zögerlich nach, wenn es zum Rapport mit ihr geht. Ich blicke auf ihren mit großen roten Mohnblättern beklatschten Kittelschürzenhintern. Ich habe die Räumlichkeiten vor Augen. Die kurze steile Treppe. Das bunte Geländer aus Holz. Der kleine quadratische Flur und der in der Flurecke aufgestellte, doppelte Spiegel über Eck. In das Eck ein kleiner Tisch eingepasst. Auf ihm ein Notizbuch, eine Schale mit Schreibstiften. Daneben die Tür zum Reich der Großmutter, die Tür zur Küche. Weiter rechts an der Garderobe vorbei die Tür zum Wohnzimmer, die Tür zum winzigen Klo mit Schrägdach und Fensterklappe. Der Vorhang zur Treppe, die zum Boden führt, ist dunkelgrün und mit goldenen Mustern verziert. Die kurze steile Treppe zum Dachboden bin ich eines Tages heimlich emporgestiegen. Das Vorhängeschloss an der Dachbodentür war mit dem Schlüssel aus dem Küchentischschubfach zu öffnen. Der Dachboden war groß und geheimnisvoll. Es standen zwei große, ausrangierte Kleiderschränke dort. Ich sehe die dicken Balken. Die Dachziegel. Die Löcher Himmel zwischen den Dachziegeln. Die tollen Winkel und düsteren Ecken auf dem Dachboden. Die Körbe und Kisten auf dem Dachbodenfußboden. Ungehobelte, ausgetretene Dielen. Und ich weiß die kleine, damenfächergroße Dachbodenluke, zu der ich, so oft es mir möglich war, hinausgeschaut habe. Über die Felder. Über den Sportplatz. Über die Wipfel der Bäume. Ich erinnere den Weg über die schmale Bodentreppe, zurück auf leisen Sohlen, denn ich hatte auf dem Boden nichts zu suchen.

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