Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 31

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Leise singend sitze ich vor der Wache, außerhalb jeder Gefahr. Die dort über mir in ihrem Turm kommen nicht auf die Idee, dass der von zu Hause Geflohene im Schatten ihres Wachturms die erste Nacht am Strand verbringt. Die Ostsee ist zu dem Zeitpunkt auch Landesgrenze, ein gut abgesicherter, langer Grenzküstenstreifen. Blaue Grenze. Wasserscheide. Scheinwerfer wischen über das Wasser, leuchten im sich wiederholenden Takt den Strand aus, setzen die Strandkörbe in gleißendes Licht, scannen Böschung, Busch, Stein um Stein und jedes sonstige Detail der Steilküste ab, verlieren sich ins Nachtdunkel des Hinterlandes. Am frühen Morgen, noch vor dem Morgengrauen ist Wachturmablöse. Ich bleibe in meiner Strandkorbbehausung, warte ab, bis erste Frühstrandläufer auftauchen, dann kann ich die kleine Bastion verlassen, am Ufer entlang ins Dorf gelangen. Von hinten herum, über die wenige Meter breite Landzunge zwischen Haff und See, unterm Schutz von Kisten, Stapeln, vorbei an den auf Dock gelegten Booten, zwischen Bootskörpern Richtung Kirchturm schleichen, in der Kirche den Vormittag verbringen; an einem Ort, wo mich die Adoptionseltern nicht suchen, weil Klassenkampf angesagt ist, die Kirche des Teufels Tempel ist.

Dort sitze ich in meinem Versteck, sehe die Leute hereinkommen und Handlungen verrichten, die mir rätselhaft bleiben. Der Pastor huscht durch die heilige Halle, spricht mit dem, dieser, diesem. Ich muss achtgeben, mit dem letzten Besucher die Kirche verlassen. Ich will nicht eingeschlossen werden. Die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, den Jackenkragen aufgestellt, entweiche ich inmitten der kirchtreuen Herde, verbringe nach der ersten die zweite Nacht in meiner Strandkorbhöhle.

Wie es mir erging, als ich für kurze Zeit weg gewesen bin und allem Familiären enthoben, erstmalig ohne die Großmutter am Küchenherd, den Adoptionsvater hinterm Schachbrett und befreit vom peinigenden Gehabe der Adoptionsmutter. Wie sie mir vorgekommen sind, die immer länger werdenden Strecken von zu Hause weg in das neue Zuhause hinein, den Wald, die Ostseeküste, durch Gestrüpp und hohes Gras, das nie mein wirkliches Zuhause werden würde? Die kurze Zeit, die Revolte lang? Ich sehe mich nicht traurig. Ich sage von mir, dass ich mich in die Adoption nicht eingefunden habe und mit den Regeln der Adoptionseltern nie richtig zurande kam, die Erwartungen nicht erfüllen konnte und all die nötigen Anstrengung nicht bewältigt habe, weil mir die Kraft dazu nicht gereicht hat, ein gesichertes Familienleben mich verunsichert und ich nicht befähigt bin, das Familienleben auszuhalten.

Sie griffen mich auf und brachten mich zu den Adoptionseltern statt ins Heim für Schwererziehbare. Also musste ich umdenken, einen besseren Plan aushecken. Und statt zu schmollen, bildete ich mich systematisch sportlich aus, stimmte mich auf weitere Strecken ein, indem ich zur Freude der Adoptionseltern meinen Körper trainierte. Ich will kein gewöhnlicher Ausreißer werden, sondern ein guter Ausreißer sein, der um die halbe Welt laufen und auch die vertrackten Wege meistern kann. Also wünsche ich mir Sportzeug und eine Stoppuhr und richtige Schuhe und beginne mit der Stoppuhr Zeiten zu nehmen und Wegstrecken zu bemessen, die ich immer lockerer im Laufschritt bewältige, ohne mich körperlich auszupowern. Immer schneller renne ich an der Steilküste entlang. Immer weiter dringe ich vor, schaffe bald lässig und unbemerkt die Distanz zum nächstgrößeren Ort und zurück, verfestige mit jedem Erfolg den Gedanken zur Flucht, wappne mich unter den Augen der Adoptionseltern, die mich dafür loben, für die große Aufgabe: die Flucht zur Mutter.

Und wie ich so dabei bin, der schwerkranken Adoptionsmutter zu beichten, füge ich rasch das nächste kleine Verbrechen an, dass ihr ein paar Lichter aufgehen, ihr letzter Gang vom Flackern meiner Geständnisfackeln ausgeleuchtet ist. Wieder eingefangen, will sagen nach Hause zurückgekehrt, bereite ich eine viel größere Untat vor, verwende Wochen auf das fehlerfreie Fabrizieren der Unterschrift meines Adoptionsvaters, was mir dazu verhilft, dem Internatsleiter der fernen Kreisstadt einen Antrag zukommen zu lassen, in dem ich mich mit Vollzug des abgelaufenen Schuljahres um einen Internatsplatz bemühe. Zum einen darauf vertrauend, dass der Adoptionsvater und der Internatsleiter zu Schach, Skat und Bier an einem Tisch in der Kreisstadt zusammenfinden, und zweitens den Umstand nutzend, dass der Adoptionsvater ein stillschweigender Mann und kühler Taktiker ist; eine Gesichtsbüste, selbst unter Extrembelastung die Übersicht bewahrend. Eine Coolness zum unnahbaren Pokergesicht, die er sich beim Simultanwettkampf erworben haben möchte, wo das entspannte Gesicht den Gegner darüber hinwegtäuscht, dass die eigenen Figuren gefährdet sind. Diese Kühle ist die von mir an ihm bewunderte Eigenschaft. Ich habe den Adoptionsvater einmal beim Schachspiel mit mehr als einem Dutzend anderer Spieler in einem Viereck aus Tischen agieren sehen. Er ist von Tisch zu Tisch gegangen, hat Figuren gesetzt und die Tasten der Schachspieluhren gedrückt und dabei dieses eiserne Gesicht, das nicht einen Gedanken hinter seiner Stirn preisgibt, getragen.

Du hast deinen Sohn also ins Internat angemeldet, wird der Internatsleiter den Adoptionsvater fragen, habe ich mir gedacht, während sie Bier trinken und Karten spielen; und der innerlich verdutzte Adoptionsvater, der von einem solchen Antrag nichts weiß, setzt sein Pokergesicht auf, gibt dem Skatspieler Kontra, sagt dem Internatsleiter Schach an, erklärt in bewundernswert ruhigem Ton, man habe Überlegungen angestellt, sich schweren Herzens dahin gehend durchgerungen, im Sinne des Sohnes für angebracht erachtet, ihm die täglichen zwanzig Kilometer Busfahrt hin und zwanzig Kilometer Busfahrt zurück zu ersparen; man wolle, dass er die Zeiten besser für die Pflichten an der Schule verwende, der Internatsleiter möge doch ein Auge auf ihn haben und gelegentlich Bericht erstatten.

Den Tag darauf musste ich antreten und eine Standpauke über mich ergehen lassen, erinnere ich die Sterbenskranke. Ein wenig Anerkennung habe der Adoptionsvater allerdings durchblicken lassen für die flott ausgeführte, von mir in unzähligen Schreibstunden erarbeitete, gefälschte Unterschrift. Eine Fälschung, wie nah sie ihrem Original kommt, bleibt eine Fälschung. Ich bekomme eine Strafe aufgebrummt. Ich bessere mich in der Schule, halte eine Zeit lang im Lehrplan mit und werde erst wieder mit dem Tag, an dem das Schreiben aus Stralsund ankommt, rückfällig. Man braucht mir heute nur ein Blatt Papier auf den Schreibtisch legen und ohne dass mich jemand dazu auffordert, beginne ich, die Unterschrift des Adoptionsvater zu fälschen, aus dem Handgelenk unterzeichne ich täuschend echt jedes Dokument mit dem Namenszug des längst verstorbenen Mannes, der in meiner Glanzzeit die eigene nicht von der gefälschten zu unterscheiden wusste.

Der Adoptionsvater, scheint mir, nimmt seinen Adoptionssohn das erste Mal als einen Sohn wahr. Kurze Zeit später kommt es noch einmal zu etwas wie Nähe zwischen uns, ausgelöst durch ein Ereignis, das, wie anders nicht zu erwarten, von Schneefall begleitet war.

Am, ABC, die Katze lief im Schnee, großen Unglückstag schneit es ausdauernd. Aus meteorologischer Sicht wird verlautbart, seit Menschengedenken habe es keinen Herbsttag wie diesen in unserer Gegend gegeben; und als nach Haus sie kam, da hatt sie weiße Stiefel an; ABC, die Katze lief im Schnee. Wir entstauben unsere Schlitten, treffen uns an der Teufelsschlucht, messen uns mit den Kindern der umliegenden Dörfer, auf der lang gezogenen Talfahrt mit der leichten Kurve, herunter bis auf den Strandsand, wo es verschiedene Rekordmarken gibt. Den Schlitten unter den Hintern gerückt, das Seil in fester Faust, schubse ich mich wieder und wieder ab, suche die aktuelle Rekordmarke zu verbessern. Das Tempo ist hoch, die Bahn mittlerweile hinreichend vereist. Ich habe im idealen Winkel durch die Kurve zu sausen, um wie von unsichtbarer Hand durch die enge Schlucht hinunter auf den Sandstrand zu gelangen. Aber irgendwie verfehle ich die Bestmarke des Spitzenreiters an diesem Tag, oftmals zwar nur um Haaresbreite, aber ich kann keine eigene Bestmarke setzen. Das stachelt meinen Ehrgeiz nur umso mehr an. Als es dunkelt, geben vereinzelte Jungs an zu frieren; und also wandern sie nach und nach ab. Du schaffst es, sagt der letzte verbliebene Rodler zu mir und geht. Die Schlucht liegt im, А, а, a, der Winter, der ist da, kalten Abenddämmer. Ich stoße den Schrei des Angriffs zum Selbstansporn aus. Herbst und Sommer sind vergangen, Winter hat erst angefangen. А, а, a, der Winter, der ist da, wuchte ich mich aufs Schlittenholz, nehme eine Kurve um die andre, schieße durch das Nadelöhr, einem möglichen Rekord entgegen und kriege meinen rechten Fuß nicht von der Kufe. E, e, e, er bringt uns Eis und Schnee, malt uns gar zum Zeitvertreiben Blumen an die Fensterscheiben. Mein Schlitten kratzt die Kurvenaußenkante, wird umgerissen, knallt gegen einen Stein, dass der Schlitten überschlägt, es mich mit ihm einige Male umherwirbelt, wir uns zum Ende hin zwischen zwei Baumstämmen verkeilt befinden. I, i, i, vergiß die Armen nie, wenn du liegst in warmen Kissen, denk an die, die frieren müssen, i, i, i, vergiß die Armen nie. Mein Knöchel ist verknackst. Das spürt der Sportsmann sofort. Ich kann mich aus der Not befreien und bin vor Schmerz blind, in Tränen gebettet. Den Schlitten irgendwie im Schlepp, krauche ich die Schlucht empor, versuche mich mit Armen, Händen und dem gesunden Fuß vorwärtszubringen. О, о, о, wie sind wir Kinder froh, sehen jede Nacht im Traume, uns schon unterm Weihnachtsbaume, о, о, o, wie sind wir Kinder froh. Niemand da, der helfen kann. Hinter den Bäumen meine ich die versteckten Jungs höhnen zu hören. Aber da sind keine Stimmen. Die Jungs sind längst aus der dunklen Nacht und aus den nassen Klamotten heraus im gemütlichen Heimchen. Die Häme, die ich zu vernehmen meine, ist meine eigene Wut über mich selbst, über so viel Idiotie, wie ich mich auf dem Bauch, einer Robbe gleich, die Bahn hinaufbemühe, von höhnischen Auslachlawinen begleitet, von unsichtbaren, aus dem Dunklen hervordringenden Stimmen attackiert. Kaum dass ich eine Schluchtstrecke bewältigt habe, werde ich von fremden Kräften gepackt und auf die Piste zurückgeschoben. Ich kann mich beim besten Willen nicht aufrichten. U, u, u, jetzt weiß ich, was ich tu, hol den Schlitten aus dem Keller, und dann fahr ich immer schneller, u, u, jetzt weiß ich, was ich tu. Bäuchlings auf dem Schlitten liegend, stoße ich mich mit dem heilen Bein unter Schmerzen vorwärts. Qualen erleide ich. Finger, Nase, Wangen, Ohrläppchen frieren mir fast ab. Umsonst rufe ich die Schlittenkumpels um Hilfe an. Und die Kälte kneift in meine Wangenhaut umso heftiger, je öfter ich sie mit Tränen benetze.

Ich muss den Schlitten lassen, mich retten, ohne das Gefährt den Hang empor, der Dunkelheit entgegenkommen, stachle ich mich an. Und plötzlich ist da aus dem Nichts über mir, aus der Mitte der Dunkelheit hervor, der Ruf des Ziehvaters, dem ich freudig antworte, der dann bei mir ist, kein Wort verliert, die Hand mir reicht, mich und den Schlitten rettet, uns beide nach Hause zieht. Mir ist der Begriff Ziehvater mit einem Male gar nicht mehr so fremd wie zuvor. Ich denke bei Stiefvater nicht mehr steif und ungelenk, habe den Ziehvater in Aktion erlebt, singe Ziehvater zieh, ich dank dir für die Müh, Ziehvater zieh.

Eine Lehrerin aus Hongkong hat ihre neun Jahre alte Tochter mit Nadeln misshandelt, weil sie die Hausarbeit nicht erledigte. Die Frau hatte das Mädchen mehr als drei Wochen allein gelassen, während sie bei ihren kranken Eltern in Peking war, wie die Zeitung» South China Morning Post «am Freitag berichtete. Als sie zurückkam, hatte ihre Tochter zwar umgerechnet 1400 Euro für Fast Food, Computerspiele und Schulmaterial ausgegeben, nicht aber die ihr aufgetragenen Arbeiten im Haushalt verrichtet. Aus Ärger darüber stach die Mutter dem Kind mit Nadeln in Hände, Arme und in den Kopf. Die 40-Jährige wurde wegen Misshandlung zu einem Jahr Bewährung verurteilt. Sie muss sich zudem in psychiatrische Behandlung begeben. Hongkong gehört zu den Städten mit den höchsten Lebenshaltungskosten weltweit.

DURCH DEN UNGLÜCKLICHEN VORFALL in der Teufelsschlucht bin ich verletzt und muss die nächsten Wochen in einem Bett in der Landambulanz verbringen; sehe mich dort mehr als erstaunlich gut aufgehoben, in einem Zehnmannsaal, der mich ans Heim erinnert. Die Betten stehen auf Rollen, was sich als praktisch erweist. Die Krankenschwestern lösen ein Bett aus seiner Verankerung und schieben den Kranken zum Zimmer hinaus. Mir gehört ein Bett, ein Nachtschrank. Es gibt einen Fahrstuhl auf dem Flur und eine Menge Feuerlöscher. Es gibt eine Rezeption, die sie Aufnahme nennen. Es ist auch sonst was los um mich herum. Ich fühle mich wieder heimisch. Ich kann mir die Namen der Männer nicht merken, also denke ich mir für sie Namen aus, die besser zu ihnen passen. Der Alte rechts vor mir jammert dauernd: Lasst mich in die ewigen Jagdgründe gehen, zu Winnetou, meinem Freund. Den nenne ich Ewigejagdgründe. Der Bursche links außen am großen Fenster liebt sein Radiogerät über alles, war stockblau, wie er angibt, als er verunglückte, und meint, er habe davon eine Meise zurückbehalten. Ich führe ihn als Blaumeise in meinem Krankenhauspanoptikum. Der Schlacks mit der Wunde im Rücken, die von einem Messerstich stammen soll, was aber wohl nicht stimmt, ist einem Gerücht nach über die Kante eines Teppichs gestolpert und dann in eine Teetischglasscheibe gefallen. Schon hat er seinen Kosenamen weg: der Teppichstürzer. Der Mann mir gegenüber behauptet, alt zu sein und das Leben hinter sich zu haben, weswegen ich ihn Altermann heiße. Neben seinem Bett ist eine Klingel in die Wand eingelassen, mit der man nach der Krankenschwester ruft. Es gäbe am Ende des Flurs eine Gemeinschaftsbadewanne, dunkelgrünes Bademittel, gegen Rheuma und Schuppen auf dem Kopf, das rieche so anders, als sonst so Bademittel röchen, behauptet er. Altermann sagt, nachts könnten seine Ohren mein Herz schlagen hören, von innen her klopfe das wilde Leben an die Pforte. Er zwinkert mir aufmunternd zu, sagt, dass das Leben hinter einem Vorhang versteckt ist, der Tod sich des Lebens bemächtigen will, bei mir aber keine Chance erhalte, gute Wesen um mich stünden, Unsichtbare, Sichtbare. Mein Krankenhausbett duftet wundervoll, ist groß, gemütlich und mit allerhand Technik versehen, Hebel zum Aufstellen der Kopfseite, Stäbe, die man in Vorrichtungen einlassen kann, dass man im Bett aufrecht sitzt und alles um sich herum im Auge hat. Das schönste Bett in meinem jungen Leben, das denke ich sofort. Und wo habe ich später nicht sonst noch geschlafen. Auf Zeitungspapier und unter rauen Decken, auf löchrigen Matten, auf dem blanken Boden, auf Stroh und Filz und ausrangierter Auslegware, in einer Badewanne, auf einer Schicht aus Tüchern, Bademantel, Kleiderlumpen, mit Säcken zugedeckt, die Nacht, auf der schmalen Biergartenbank, dem Brett einer Kinderspielplatzschaukel, in einem schwarzen Eisenbett im Stil der Franzosen, erworben als Hochzeitsgeschenk. Die Frontteile waren mit runden Messingkreisen verziert, die Scharniere quietschten so schön, dass einem der Sex darin peinlich wurde. In einem Ferienlager ruhte ich auf einem knarrenden Feldbett. Die Arme unterm Kopf verschränkt, starrte ich zur Zeltdecke empor, fühlte mich, wenn ich die Augen schloss, in die Mongolei versetzt, unterm Stoff einer Jurte, die ich ganz allein für mich habe. Bei der Köchin, die mich adoptieren wollte und sich nicht gegen den bösen Busfahrer durchsetzen konnte, lag ich in einem kleinen Bauernbett, nicht sonderlich groß, weil die Bauern vor dreihundert Jahren klein gewesen sein sollen, wie die Köchin betonte. Ich schlief ins Bauernbettchen eingepasst in Embryonalstellung. Im hinteren Raum stand ein hoher, runder Ofen mit Kacheln. Die Köchin zeigte mir einen engen Schlafkoben. Ein Koben darf nicht gemütlich sein, sagte sie, ist er doch für ein kurzes Nickerchen gedacht, für die Bediensteten zur Mittagsruhe. Der Koben war unauffällig in die Täfelung des Raumes eingearbeitet, die doppelte Tür nicht als Kobentüren zu erkennen. Wenn sie dich suchen kommen, verstecke dich dort, man entdeckt dich in der Schlafstatt nimmer, hat sie geraten und mich in dem quadratisches Menschenfach eine Nacht schlafen lassen, die Beine angezogen, klein und beengt, fühle ich mich dort recht wohl aufgehoben. Ich habe mein Hochbett aus der Studentenzeit plastisch vor Augen, selbst getischlert auf dem Höhepunkt meiner handwerklichen Geschicklichkeit, von einer Säule gehalten, einer Tankstelle ähnlich. Ich lag so gerne am oberen Fenster und guckte von dort auf die Straße hinab, dem Treiben der Leute zu. Auf dem Laufsteg der Erinnerung fahren unzählige Betten vor. Eine lange Schlange. Eine Parade der vielen Betten. Ein Aufmarsch, der nicht enden will. Betten darunter, die mich Guter Mensch rufen, erinnerst du dich an uns. Ich muss öfter passen, schüttle den Kopf. Vorneweg, das Kreiskrankenhausbett, erkenne ich auf Anhieb. Ihm nach folgt das Bett, auf dem ich operiert worden bin, in dem ich auf dem Rücken lag und mir die Schwester die Leck-michspritze verabreicht hat, deren Wirkung mich ins Reich der wirren Gedanken schickte. Der gesamte Katalog zeitlich begrenzter, hochmoderner Konstruktionen, zum Klappen, zum Ausziehen, zum Drehen, Kippen, Aushebeln. Funktionale, schnörkellose Liegen, die allesamt meinen geringen Ansprüchen genügen. Einigen Gestellen sieht man nicht an, dass sie mir als Bettstatt gedient haben. Da ist aber auch das Bett inmitten der Betten, in das ich genässt habe. Das Bett bei einem Schulfreund, unter das ich ängstlich nachgeschaut habe, ob etwas drunter sei, wenn wir bei ihm einen Gruselfilm geschaut haben; das Zimmer blieb für mich hell erleuchtet. Ich springe in das kalte Bett und verschwinde bis ans Kinn unter der schützenden Decke. Zum Bett meiner Großmutter erscheint der kleine Nachtschrank. Auf dem Nachtschrank steht die Nachttischlampe, von ihrem Fuß aus führt die mit Stoff umwickelte Leitung zur Steckdose. Ich weiß den dunkelbraunen Lichtschalter noch, den ich so gerne betätigt habe und mir den Schirm zurechtgerückt, wenn ich im Bett in einem Schmöker lesen wollte. Bäuchlings das Buch auf dem Kopfkissen abgelegt, sehe ich mich, knabbere Kekse, muss das Laken von der Matratze nur lösen, um die Krümel auszuschütteln. Im Bett der Großmutter pinkele ich nicht ein. Und da ist das Bett, auf dessen Rand ich im Internat sitze, nach vorne gebeugt, eher unbequem als frei, bilde ich meine ungelenken Finger an der Gitarre aus. Bald zieren wunde Fingerkuppen meine Hände, von den dicken Saiten, die zum Akkord gebündelt, auf den Steg gedrückt werden müssen, sollen verführerische Harmonien erklingen. Ich sehe mich vor dem Bett im Koffer wühlen, es geht auf Klassenfahrt. Ich habe vergessen, das Tagebuch einzupacken. Ich weiß das Bett wieder, das ich zum Versteckspiel, zum Verkriechen und als Höhlenbau verwendet habe. Das Bett für traurige, einsame Momente, in denen es sinnvoll ist, sich allein zu wissen, schwach zu sein, mit Tränen das Kissen zu befeuchten. Und dann meine ich den Maorikönig aus einem der Bücher auf dem Dachboden auf einfacher Matte schlafend zu sehen und Kinder auf Baumrinde ruhend. Und leere japanische Betten, die aus nichts weiter bestehen als der einfachen Matratze, auf den Boden ausgelegt und von einem Lattenviereck aus Holz gehalten. Und ich erhasche einen Blick auf die Apothekerin, die mir ihre hölzerne Kopfstütze zeigt, sonst in der Sauna verwendet, die ihr zur Nacht den Kopf schont, die kunstvolle Frisur erhält.

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