Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 46

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Ich sage, dass ich einen Varietebauchredner in mir trage, eine ausgewachsene Handpuppe, die mir innere Dialoge abnötigt. Der innere Schmerz, der Stimme zu werden sucht, sage ich, die schmerzenden Stimmen im Bauchinnenraum wie früher bei Fliegeralarm. Der innere Bauchredner hält den inneren Schmerz zusammen, verengt meine Furcht vor den inneren Zungen. Was mich zwickt, ist bis in die Antike zurückzuverfolgen. Ich bin Eurykles von Athen und halte meinen Bauch, in dem sich ein Bauchwahrsager eingerichtet hat, dem Volk hin. Achja, macht der Doktor. Mit Poesie kann er nichts anfangen. Mein Puls ist erhöht. Sagen Sie nichts, sagt der Doktor. Ich verstehe, was Sie durchgemacht haben. Sitzt auf meiner Bettkante, legt mir die Hand auf die Schulter, unterstellt mir unglückliche Tage. Sucht mich durch Anteilnahme auf seine Seite zu lotsen. Ich werde von ihm behandelt, als wäre ich krank. Er drückt mir den Unterleib, verschreibt mir etwas, das, wie er sagt, dieses Ding in meinem Bauch beißen wird und außer Kraft setzen. Der Blinddarm ist es nicht. Der Mann fährt mich zum Parkplatz zurück. Wir sitzen eine Zeit beisammen und sagen nichts, bis der Mann sagt, wie leid es ihm tut. Ja wie denn, krächze ich. Du stirbst in dieser Hülle, wirst begraben in deiner Kinderheimhaut, und das beißende Krokodil in dir mit. Lebendig! Die Welt ist nicht zu belügen. Die Wahrheit wächst wie Spargel tief unterhalb und nur die Köpfe schmecken. Einmal Heimkind, immer Waise. Das Heimkind in mir schimmert überall durch. Meine Haut wird durchlässig. Heim bleibt Heim. Sagen Sie nix. Heimkind sein, ist Haut verpflanzt bekommen, die deinen Körper hermetisch umschließt, ihn engt und gefangen hält. Jeder gewonnene Abstand trügt. Es gibt kein Entfernen vom Schneckenhaus. Das Heim wandert mit dir aus, wimmere ich beinahe. Wenn du erst Schnecke geworden bist, kommst du aus deinem Haus nicht heraus. Richte mich auf, die Arme gebreitet: So schleppe ich all die Heime aufgetürmt zu einem Heim mit mir herum. Das Krokodil in meinem Bauch beginnt wieder um sich zu beißen, ich sacke in mich zusammen. Das Beißkrokodil zwingt mir Schweigen auf. Der Mann nimmt das Wort, sagt, dass er Lehrer ist und oft in Indien, in den indischen Religionen beschlagen, wo dem Mitleid eine zentrale Rolle zukommt. Und dann muss der Mann weiter, sagt, dass es schön war, sich kennengelernt zu haben, und wenn das Buch geschrieben ist, wird er es lesen, egal wie vehement ich mich gegen sein helfendes Interesse ausspreche. Literatur sei Architektur, baue Brücken auf den Leser zu, keuche ich ihm zum Gruß. Der Mann hebt die Hand zum Abschied. Dann ist der Mann fort. Das Krokodil in meinem Bauch ist nicht so leicht zu vertreiben. Ich bleibe auf dem Parkplatz. Ich sitze auf dem Beifahrersitz. Ich bin wieder allein. Ich denke an Amputation, chirurgischen Eingriff, die Entfernung meines in mir um sich beißenden Krokodils. Ich bin bereit, einen anderen Körperteil herzugeben, den Blinddarm, die Mandeln, um das Krokodil loszuwerden, bevor das Krokodil mich beherrscht und von der Reise abhält. Das muttersüchtige Krokodil spürt die Nähe der Mutter mit jedem Kilometer stärker, rede ich mir ein, will den Besuch nicht, sucht mich vom Kurs abzubringen, zur Umkehr zu bewegen. Phantomschmerz, sage ich mir. Einbildung. Zeitweise Lähmung. Oberflächlicher Schmerz, der nicht tiefer in mir sitzt. Das geht vorbei, sage ich mir, nicke ein und erwache durch einen Laster, der haarscharf an mir vorbeidröhnt. Mir geht es deutlich besser. Ich setze die Mutterfahrt Stunden später als geplant fort. Nun werde ich sicher erst um Mitternacht ankommen. Beethovenmusik hilft mir, die langsam aufziehende Ungeduld zu übertünchen, die Emotionen in Schach zu halten. Armer Bruder Beethoven, nach Wien gegangen, um Musikstunden bei Wolfgang Amadeus Mozart zu nehmen, wozu es nicht kam. Die Mutter kündigte ihren herannahenden Tod an. Du musstest dich in Richtung Bonn trollen, so viel Macht übt die Mutter aus. Und auch Mozart ist nicht frei von Mutterbelastung. Der Mutter hörig, von der Mutter bedrängt, der Mutter zum Gefallen, sagt er den Oberen seiner Wahlstadt ab, weil es zwischen der Mutter und dem Dienstherrn zu Spannungen gekommen war. Bis Neckarelz rausche ich über eine breite Straße durchs Tal am Neckar, das im Dunklen verborgen bleibt. Eine bizarre, von Lichtpunkten durchsiebte Dunkelheit. Scheinwerferlicht ritzt am Lack der stockdunklen Nacht. Bis endlich die Lichter der Gemeinde Eberbach am Neckar vor meinen Augen auftauchen. Der Ort, an dem die Mutter wohnt, ist ein schöner Ort, auf dem ersten Blick. Die Kirche in Ocker. Viel Ziegelrot. Herrliches Fachwerk. Bunte Wimpelketten. Hierher hat sich die Mutter verkrochen, in Decken der Verdrängung gut eingehüllt. Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein, bald hab ich ein Schätzel, bald bin ich allein. Bäume. Rasen. Flächen, Schiffe als Schablonen. Kaianlagen. Poller in Reihe. Ampeln. Lichter. Straßen. Lampen. Das schöne Zucken auf der Wasseroberfläche des Flusses, an dem ich vorbeifahre. So viel ist von Eberbach zu sehen im Laternenlicht. Und rechts fließt der Neckar, links ziehen die Häuser vorbei. Ich fahre zügig durch den Ort hindurch. Eberbach ist den nächsten Tag mein Ziel. Die erste Nacht will ich in einem anliegenden Ort verbringen, den ich nicht mit der Mutter teilen muss. Was hilft mir das Grasen, wenn d' Sichel nicht schneidt, was hilft mir das Schätzel, wenns bei mir nicht bleibt, und soll ich denn grasen, am Neckar, am Rhein; so werf ich mein schönstes Ringlein hinein, soll schwimmen hinunter ins tiefe Meer nein, so frisst es ein Fisch, das Fischlein soll kommen aufn König sein Tisch, der König tut fragen, wem's Ringlein soll sein. Kannst grasen am Neckar, kannst grasen am Rhein. Ich finde die Pension, steige aus, werfe die Wagentür hinter mir zu, lasse die Gepäckstücke Gepäckstücke sein, stehe vor dem Haus, recke meinen Leib, als wäre ich nicht aufgeregt, finde im Briefkasten den Zimmerschlüssel wie verabredet in einem Umschlag vor, stecke ihn ein, gehe nicht aufs Zimmer, sondern sitze fast eine Stunde lang im Hinterhausgarten der Pension mit mir allein zusammen, in bester Gesellschaft unter einem aufgespannten Sonnenschirm, der mich vor dem Dunkel der Nacht abschirmt. Hinter mir ist das sanfte Rauschen eines unsichtbar fließenden Gewässers zu vernehmen. Ich trinke den roten Wein aus der mitgeführten Flasche, den ich Mutterfindungswein taufe, eigens für diesen Augenblick meiner Ankunft mitgeführt. Da es mir schön ist, ich es mir nicht anders überlege, die Muttersache durchziehe, stoße ich auf mich an, bestätige mir, gelandet zu sein und sinne ins Dunkel hinein, lass all die Regungen ablaufen, die mich befallen.

Weit nach Mitternacht stelle ich die Reisetasche im Pensionszimmer ab, hole aus ihr den transportablen CD-Player hervor, lege die Musik ein, mit der ich zur Mutter unterwegs bin. THE KÖLN CONCERT. Cologne, January 24, 1975, Part I, 26:15, Part II a 15:00, Part II b, 19:19. Part II c, 6:59, All composed by Keith Jarrett, Produced by Manfred Eicher, An ECM Production, Published by CAVELIGHT MUSIC BMI/AMRA. Erschöpft und müde, stehe ich am Pensionsfenster, blicke in die dunkle Nacht wie in eine Zeitmaschine. Der Pensionsbesitzer hat eine Riesenplatte Abendbrot unter Klarsichtfolie bereitet, die für zwei Personen locker ausreichen würde. Ein Ensemble grandioser Köstlichkeiten. Geräucherte Forelle. Schinkenscheiben. Weintrauben, Melonenhälften. Tomatenstücke. Gewürzgurke. Weichkäse mit Schimmeleinlage. Hartkäsehäppchen auf Salatblättern. Tischtennisballgroße Salamistücke. Butter in rot-blauweißer Verpackung. Null-Komma-zwei-Liter-Weingläser mit grünem Apfelsymbol. Eine gute Stunde verweile ich an der Silberplatte, esse brav alles auf, sitze auf den weichen, rotweiß karierten Kissen im halb runden Korbsesseln. Die Beine hochgenommen, betrachte ich die Nacht durch die geöffnete Balkontür, beginne zu frieren, trinke die Flasche Wein leer, haue mich, ohne mich meiner Kleidungsstücke zu entledigen, ins Bett, um alsbald erschöpft einzuschlafen.

Unter welcher Belastung, welchen Umständen, zur späten oder bereits sehr frühen Nachtstunde ich wann und wo auch einschlafe, ich erwache Punkt sechs Uhr siebenundzwanzig. Ein Fluch. Meine Biouhr. Und muss mit Müdigkeit in den Knochen das Erlebte erst einmal aufschreiben, die Träume der Nacht, Gedanken, die einem so gekommen sind, bestimmte Dinge bei Tageslicht besehen beschreiben. Und bin nicht gerne lange in fremden Zimmern, sitze auf der Terrasse unter dem Schirm, der mir zur Nacht den Himmel fernhält, schaue auf die Kirche hinter der Pension. Die Kirche sieht wie ein Bahnwärterhäuschen aus. Aus ihrer Dachmitte ragt ein quadratisches Türmchen, mit viertelstündlich bimmelnder Uhr. Neben mir werkt ein Mann mit Bauchschürze, der Tscheche oder Pole ist, an einem Motorrad. Er schmeißt die Maschine an, gibt Gas, macht Lärm, der mich vertreibt. Ich bewege mich zum Pensionstor hinaus, drehe große Runden, schaue mich um, fühle mich ein, suche Sensationen, wie dieses knallig gelbe Plakat unweit der Pension, das nach mir ruft, an einer Verkaufsbude prangt und einen Jackpot von neun Millionen verspricht. Lotto jetzt, steht über dem Eingang geschrieben. Ein Hundeverbotsschild sagt streng: Wir bleiben draußen. Hinter der Barriere steht eine Frau, gut einige wilde Jahre über ihrem Zenit, aber immer noch verdammt gut beisammen, in eine dunkelblaue Sportjacke gesteckt, umflort von einen weißen Kragen mit Reißverschluss. Schauen Sie sich um, junger Mann, fordert sie mich auf, der ich dem Wunsche bereits nachgehe. Mir nach treten zwei Typen, die Manne und Knolle heißen und wie Topf und Deckel zusammenpassen; offensichtlich Brüder, in Mutters guter Stube, mit ihren auffällig hellen, hohen Stimmen. Der eine in Windjacke mit roten Armstreifen plus Brustaufschrift, die Hose über dem Bauchnabel um die fette Hüften gebunden. Der andere, auf den ersten Blick dürre, in hellblauem Hemd, Kragen offen, in einer Hose, die ihn wie eine Schneiderpuppe aussehen lässt. Bruder Dick holt mit ausladender Geste Tippscheine hervor, die von der Tresendame Blatt für Blatt in die Glücksermittlungsmaschine gesteckt werden, dann zahlt sie ihnen eine Summe aus, die Dick & Dürr in Schokolade, Gummizeugs, Lustigkeitswasser, Brot, Milch, Käse, Salzgebäck umsetzen. Ein Restsümmchen verbleibt, sagen sie im Chor, schieben ein Trinkgeld der Dame hin, sind raus aus dem Laden. Was die hier gewonnen haben, ich kann Ihnen sagen, sagt die Tresenfrau. Hinter ihr lindgrüne, lindrosa, lindbläuliche kleine Becher bedruckt mit den Fernsehfiguren aus der DDR. Das Sandmännchen. Der Fuchs. Die Elster. Pittiplatsch. Schnatterinchen. Für einen Euro und sechsunddreißig als Überraschungspackung. Dazu Ostquark. Honeckers Schlafmohn. Stasi-Schocker und Russenpudding, dass die Vermutung naheliegt, der Laden sei eigens für mich eingerichtet worden, weil man um meine Vergangenheit weiß, und von meinem Mutterunterfangen. Sie wissen von meiner Heimkindzeit, woher ich komme, und suchen mich mit albernen Artikeln aus meiner Vergangenheit zu erfreuen, was mich mehr als erschreckt. Ruckzuck bin ich aus dem Laden raus, zur Verwunderung der freundlichen Dame hinterm Tresen, dem Flussrauschen der Nacht nach, das zu einem kniehohen Wasserfall gehört und einem Flachgewässer von ungefähr doppelter Billardtischbreite, träge und sauber fließend. Ich hört ein Bächlein rauschen wohl aus dem Felsenquell, hinab zum Tale rauschen, so frisch und wunderhell, ich weiß nicht, wie mir wurde, nicht, wer den Rat mir gab, ich musste hinunter mit meinem Wanderstab, hinunter und immer weiter, immer dem Bache nach, der immer frischer rauschte, und immer heller, ist das denn meine Straße, oh Bächlein sprich, wohin, du hast mit deinem Rauschen mir ganz berauscht den Sinn.

Gegen Mittag fahre ich also denn nach Eberbach, zum Mutterort hin. Hinterm Bahnhof nahe der Muttergasse, in einem abschüssigen Garten, die Bleibe für die nächste Zeit zu beziehen, übers Internet gefunden, am Beginn der Mutterstraße, um, wie ich es vorgehabt, ganz in der Mutternähe zu sein, mich für das Muttertreffen fit zu machen, den anstehenden Mutterbesuch wohl vorzubereiten. Ich stelle den Wagen weit vorher auf einem Parkplatz ab. Die Nummer soll mich nicht verraten. Ich kreise das Wohngebiet der Mutter systematisch ein. Ich gehe mit meinem Gepäck das Stück Zusatzweg ab. Ich taste mich in Mutterrichtung voran. Jede Stadt, Eberbach am Neckar auch, ist unterteilt. Der Bahnhof bildet die Grenze. Man wohnt nach Klasse und Schicht. Entweder nach vorne heraus zum Hauptausgang des Bahnhofes ins bessere Viertel. Oder eben weniger toll hinterm Bahnhofshinterausgang. Nach hinten heraus vom Bahnhof zu leben meint, immer wieder über die Gleise gehen, die schmale Brücke entlang, die ellenlange Strecke vom ersten Abstellgleis bis zur allerletzten Rostschiene, den deutlich längeren Anmarschweg bewältigen, auf weniger attraktive Wohnhäuser zu, als diejenigen zum Bahnhofsgebäude nach vorne heraus, wo gleich nach dem Haupttor des Bahnhofes die besser situierten Leute in schmucken Häusern verschwinden und in Straßen mit städtischem Niveau leben, wo sie das volle Leben frei Haus vor ihren Türen geboten bekommen. Ich bin recht gut zu Fuß unterwegs. Es geht bergan auf die Gartenpension zu. Und als ich die Pforte aufstoße, krampft es mich in einer Heftigkeit von innen her, dass ich mich gegen die Wand lehne, mir den Bauch halte, wieder dieses Reißen von unter der Bauchdecke her spüre, als trüge ich eine Schussverletzung in mir. Verdammtes Krokodil. Ich muss erbärmlich aussehen, denke ich. Ich muss das kleine Krokodil an den Neckar bringen, in den Neckar werfen. Eine schlimme Weile vergeht, dann ist der Schmerz verflogen, die Gartenlaube bezogen und ich kann mich schmerzfrei auf die Mutterfährte setzen, von hinter dem Bahnhof aus, durch einen Bahntunnel, frisch die Gasse weiter hochgewandert, auf die weithin sichtbare, hochaufragende Betonstele zu, die eine Kirche ist, ein betongrauer Seelensilo, in den Siebzigern hochgezogen, Tribut an die Moderne. Hausnummer für Hausnummer. Und vor dem Haus der Mutter abgebogen, bis ich endlich auf der Bahnhofsbrücke bin, auf das Bahnhofshinterland blicke, in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Im Bewusstsein, über Gleisbetten zu stehen, auf der Verbindungsbrücke zwischen Bahnhof und Bahnhofshinterland, fasse ich das Geländer, das meine Mutter berührt haben wird, wenn sie hier entlanggegangen ist. Und halte inne. Und schweige. Und spüre. Und spüre nichts. Und befreie mich aus der Umklammerung, löse mich von diesem Geländerstück, um ins Zentrum zu gelangen, in die Wirklichkeit von Eberbach am Neckar, auf ein hell erleuchtetes Bäckereischaufenster zu, in dem ein Fahrrad prunkt, das ein gasbetriebenes Rad ist, im hohen Norden, wo ich groß geworden bin, Hühnerschreck gerufen. Zwischen Vorder- und Hinterrad türmen sich grüne Päckchen, mit roten Schleifen umhüllt, und rote Päckchen mit gelber Schleife, neben drei schlanken, durchsichtigen Schnapsflaschen mit bräunlicher Füllung, wie Wachmänner aufgestellt. Aus einer Fachwerkfassade ragen mir zwei Pferdeärsche entgegen, die sonst was denken lassen, wie sie dort wohl hineingesprungen und stecken geblieben sind. Die Fassade trägt die Hausnummer neunzehn, meine Glückszahl. Alles, was mit mir angestellt worden ist, geschah ohne meine persönliche Einwilligung. Ich lichte die vor der Kirche hoch aufgerichtete große blaue Figur ab, einen Engel, der zu einer kirchlichen Ausstellung gehört, die eben ihre Eröffnung feiert. Ein Mann hält die Hände hinter dem Rücken gefaltet, um mit erhobenen Augenbrauen die Frage einer Fragestellerin zu beantworten. Heimat sei auf Erden nicht zu finden, sagt er, da es zwar eine Sehnsucht nach ihr gebe und die Heimat weit außerhalb, von wo her er die Hoffnung und Farbe gesendet bekomme; gegen die irdische, verstaubte, nicht benötigte, abgestoßene Sehnsucht, sind verlorene Gefühle freizulegen, wiederzuerwecken; meine Farben sind nie reine Farben, Asche und Erde verwende ich, um die irdische Kurzsichtigkeit unserer Tage in Verbindung mit dem teurem Goldimitat, mit Eisen, Rost, Kupfer und Materialien zu setzen und dem Acryl, welches den Bildern Strahlkraft leiht, die bis zu den Göttern reicht. Er denke sich in Situationen hinein, behauptet der Maler. Elias zum Beispiel bewege ihn, der fliehen muss, das Weite suchen. Er wolle ihm bei seiner Suche behilflich sein, ihm Weite aufzeigen, zur Flucht verhelfen, dass er der Schwere entkomme, die durch dunkle Farben angedeutete Schwere, von dunkler Stimmung erzeugt, höre ich im Abgang. Man klatscht Beifall. Dann ertönt ein Duett aus Querflöte und kleiner Kirchenorgel.

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