Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg Страница 20
- Категория: Проза / Современная проза
- Автор: Sibylle Lewitscharoff
- Год выпуска: -
- ISBN: нет данных
- Издательство: -
- Страниц: 22
- Добавлено: 2018-12-10 19:57:51
Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg краткое содержание
Прочтите описание перед тем, как прочитать онлайн книгу «Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg» бесплатно полную версию:Grande admiratrice du philosophe, Sibylle Lewitscharoff, dans ce roman qui multiplie les allusions a Lions, evoque surtout le penseur dans son cabinet de travail. On pourrait parler en l'occurrence de portrait moral d'un saint moderne qui, tel saint Jerome (la comparaison est explicite), a voue son existence a l'etude dans la solitude de sa retraite. Dans le roman, la metaphore devient realite, le lion de la legende de Jerome se concretise dans son bureau, devient donc present mais tout en restant, comme la realite, impossible a atteindre. Les 5 chapitres intitules Le lion (numerotes de I a V) constituent, avec les chapitres Coca-cola et Egypte, une biographie intellectuelle de Blumenberg et un bel hommage a un maitre venere. Parallelement a ce portrait, dans des chapitres qui en sont presque independants, l'auteur a voulu construire une sorte de conte philosophique et moral, a propos du rapport d'un individu avec un maitre (illustre par 5 exemples). Dans la petite ville de Munster, dans les annees 80, quatre etudiants suivent les cours brillants — decisifs pour le destin de chacun d'eux — du celebre philosophe. Le premier (et le seul des quatre a avoir un bref entretien avec le professeur), Gerhard (chap. Optatus, Dimanche, L'ange annonce et Heilbronn), studieux et brillant, deviendra lui-meme professeur de philosophie. Sa petite amie, Isa, inquiete et passablement exaltee, est tourmentee en secret par une passion morbide pour le maitre, ce qui la conduira au suicide (chap. Optatus, Dimanche et N 255431800). Leur ami, Richard, reve du maitre comme d'un sauveur et, decu, va poursuivre en Amazonie son reve infantile de salut (un recit d'une sombre beaute, en 3 chapitres consecutifs, Richard, etc.). Hansi, quant a lui, transforme en delire l'enseignement du maitre et s'enfonce lentement dans la folie (chap. Hansi et Addenda). Un cinquieme personnage au caractere bien trempe, la religieuse Mehliss (chap. Souci universel), reconnait aussi la superiorite de Blumenberg, mais intuitivement (elle est la seule a voir le lion), sans rien savoir du philosophe. Tout le roman tient dans le recit de l'existence de ces differents personnages (aux destins contrastes mais independants, obeissant uniquement a une logique interne a chaque personnage) depuis le jour de leur rencontre avec le philosophe jusqu'a leur mort… et meme encore plus loin, dans un au-dela explicitement inspire de Beckett ou le dernier chapitre les reunit tous, en compagnie de Blumenberg. Ne en avril 1954, Sibylle Lewitscharoff est l'auteur d'une oeuvre riche et reconnue en Allemagne. Ce titre, pour lequel il lui a ete decerne plusieurs prix est le son premier ouvrage a etre traduit en francais.
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So schritt die Zeit voran, und Gerhard sollte mit seiner Prophezeiung recht behalten, vielleicht nicht mit dem Wangenzucken, aber mit allem anderen. Beängstigend schnell hatte sich Hansis Verfall vollzogen. Nach wenigen Jahren gab es nicht mehr den schmucken Hansi von ehedem, der Nacht für Nacht durch die Kneipen von Kreuzberg und Charlottenburg geisterte: Hansi war heruntergekommen. Ein geschultes Auge hätte vielleicht erkennen können, daß seine Kleidung einstmals eine sehr gute gewesen war; jetzt war sie abgeschabt und verschmutzt. Das Haar, vor der Zeit grau und schütter geworden, trug er noch immer lang. Mit seinen markanten Zügen sah er fast aus wie Antonin Artaud in den späten Verwitterungsphasen, da fehlende Zähne den Mund hatten zusammenfallen lassen.
Als sich die Mauer öffnete, steigerte sich Hansi in eine große Erregung hinein. So viele neue Menschen, die orientierungslos herumirrten und die es zu wecken galt!
1991, an einem späten Donnerstagnachmittag im Oktober, da das Gewühle im Bahnhof Zoo besonders groß war, faßte er unten in der Halle vor dem Aufgang zu den Zügen Posten. Neben sich hatte er einen alten Pappkoffer gestellt. Einige Minuten fixierte er die Passanten, die, ohne ihn weiter zu beachten, an ihm vorbeiströmten. Mehr aus Gewohnheit, nicht weil er ihn brauchte, nahm er einen Zettel aus der Hosentasche und erhob die Stimme. Hansi hatte nie eine volltönende Stimme besessen, jetzt strengte er sich mächtig an, durch die hohe Halle zu dringen, und kam darüber ins Kreischen. Mit angespannten Halssehnen empfahl er den Passanten die Heimkehr zu sich selbst.
Von einer Wüste der Traurigkeit seid ihr umgeben! schrie er die Leute an, von denen nur wenige zu ihm hersahen und noch wenigere ihre Schritte verlangsamten. Sie dachten, ein alkoholisierter Krawallmacher brülle sie an.
Ratlos! brüllte es aus ihm heraus: Ratlos seid ihr, ratlos blickt ihr auf das bleiche Ruinenfeld eures widerlichen Lebens! Ihr in euren Löchern. Raus, rein, überall Löcher. Schmutzloch! Schmutzloch! Nicht geschenkt haben will ich eure Löcher. Lochkrepierer seid ihr. In seinem Loch ist jeder Käfer Sultan, sagen die Ägypter. Die Ägypter sind weise. Ihr aber seid Käfer! Ihr wollt nicht aus euren Löchern.
Mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er an der Luft herum: Zur Sicherheit werdet ihr jetzt alle für tot erklärt und aus dem Operationsgebiet abgezogen!
Er legte den Finger an die Stirn, als müsse er überlegen, seine Stimme wurde ruhiger und tiefer: In Afrika ist der Ausdrucksvolle schön. Wer am ausdrucksvollsten mit den Augen rollt und am wirkungsvollsten mit dem Kinn zittern kann. So einen Mann holen sich die Mädchen mit locker schwingenden Armen aus der Runde. Wer mit dem Kinn zittern kann, hat gewonnen! Her zu mir, sage ich! Auserlesene, her zu mir!
Wieder fuhr sein Zeigefinger senkrecht in die Höhe, und wieder setzte das Kreischen ein: Der sich und andere verwirrende Mensch ist der gewöhnliche Mensch. Das gemeine Aas. Ihr seid die gewöhnlichsten Menschen. Schmutzloch!
Hier nun zitterte seine Stimme von schwelendem Zorn, und sein gegen die Leute ausgestreckter Finger zitterte mit: Aber ich weiß zu verhindern, daß ihr weiter wie gewöhnliche Menschen vor euch hinschmutzt. Vor euch steht der Erwählte!
Er erhob sich auf die Zehenspitzen und stellte sich dann fest auf die Füße: Hier — er zeigte mit abgehackter Bewegung auf seine Füße —, hier steht Einer! Einer, der! Hansjörg Cäsar Bitzer. Ordnungsdienstlich. Die Entfernung aus dem Operationsgebiet ist verfügt! Weg! Arschlöcher weg!
Nun wedelte Hansi mit den Armen, als müsse er Fliegen verscheuchen, dann faßte er sich und nahm seine übliche Drohstellung ein: Aber vorher geht der Koffer auf. Der HERR hat gewerkt! Lämmer werden dem Koffer entquellen, nicht falsch, wer jetzt an das Lamm Christi denkt! Nicht falsch, wem jetzt das Kinn zittert, wenn ich die Schlösser schnappen lasse. Auf geht’s, ihr Arschlöcher! Glaubt nur, daß es mit euch bald ein Ende haben wird. Wundern werdet ihr euch über meine Lämmer. Ich habe Lämmer dabei, einzigartige Opferlämmer, die nur darauf warten, euch zwischen die Beine zu laufen. Seht, ich hebe jetzt meinen Zeigefinger, wie einst Christus beim Abendmahl den Zeigefinger hob — Hansi hob aber nur kurz den Finger, stürzte sich auf einen Passanten und entriß ihm eine Flasche Coca-Cola, warf sie zu Boden, wo sie splitterte und ihren Inhalt ergoß —, du da, du wirst mich verraten, und du, und du, und du, ihr alle werdet mich verraten! Verräter werden alle aus dem Operationsgebiet entfernt!
Der junge Mann war zu erschrocken, um etwas gegen Hansi zu unternehmen. Weil gar zu absonderlich war, wie sich der Verrückte benahm und was er herausschrie, hatten sich inzwischen doch Neugierige eingefunden, ein altes Ehepaar und ein Kind, eine Gruppe junger Polen. Die Frau hatte den Kopf schiefgelegt, um besser zu hören. Aus gehörigem Abstand heraus schauten sie auf Hansi. Da traten zwei Wachleute von einem privaten Sicherheitsdienst heran und faßten Hansi mit geschulten, unwiderstehlichen Griffen von hinten unter die Arme. Der wehrte sich verzweifelt, drehte wild den Hals, schrie, zappelte, trat mit den Beinen gegen die Beine der Sicherheitsmänner, seine Widerstandsfähigkeit wuchs mit jedem Schritt. Während die Männer ihn zum Ausgang schleiften, schrie er immer wieder nach seinem Koffer und seinen Lämmern. Schrie: Ich bin’s, der Stein, der schreit!
Lämmer! das Wort füllte die Halle, während Hansi zwischen den beiden zusammensackte. Sie glaubten erst an einen Trick, ließen den Leblosen vorsichtig zu Boden gleiten, sie stießen ihn, rüttelten an seiner Brust, dann riefen sie den Rettungsdienst, Männer in grellen Jacken, die sich an ihm zu schaffen machten, aber nicht mehr tun konnten, als den Tod des Mannes festzustellen. Als man später den Koffer öffnete, fand man ihn leer. Das heißt, nicht ganz. Eine Bildpostkarte war auf den Grund geklebt mit einem Gemälde von Zurbarán. Es zeigte ein gefesseltes Lamm, erbarmungswürdig in seiner Unschuld, das zarte Reiflein eines Heiligenscheins über dem ergebenen Kopf.
So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten, noch dazu nach Art eines Buchhalters, ohne die verflossene Zeit zu durchdringen und die Tode in einem verschlungenen Netz anspielungsreicher Bezüge zu bergen. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es eben festgehalten, festgehalten zum Zwecke neuerlicher Verwandlung, wie sich bald zeigen wird.
Vorher muß aber noch ein anderer Tod nachgetragen werden, kein verfrühter, sondern ein altersgemäßer: nicht wild, nicht zappelig, sondern ruhig in ihrem Bett (allerdings nicht mit gefalteten Händen, denn sobald die beiden Klosterschwestern, die das Bett umstanden, die Hände ineinander zu bringen versuchten, fuhren sie wieder auseinander), den winzigen haubenlosen Kopf hochgelagert auf einem prall gefüllten Kissen, verschied am 12. März 1987 Käthe Mehliss, und zwar mit dem Satz: Gleich geht’s wieder los, ihr werdet sehen!, wobei sie noch die Kraft fand, das S überscharf zu betonen, wie es immer ihre Art gewesen war.
Ein letzter Zweifel sei hier angemerkt: Wir zögern, die Behauptung Wittgensteins ins Feld zu führen, all diese Tode wären jeweils ein ganzes Leben wert gewesen. Waren sie’s? Das Gegenteil könnte genausogut der Fall sein — der Tod hat keinen Wert, das Leben allen.
Der Löwe V
Über die Jahre hinweg hatte sich Blumenberg an seinen Löwen gewöhnt. Nach der Emeritierung war es um ihn einsam geworden. Nur selten verließ er das Haus, den Kontakt zu seiner alten Universität hatte er verloren, dem Gewühl des Wissenschaftsbetriebes, dem er sich schon vorher weitgehend entzogen hatte, war er völlig abhanden gekommen. Ihm war nur die Verbindung zur eigenen Familie geblieben; die Innigkeit der Gesellschaft mit dem Löwen hatte sich intensiviert. Er lebte mit ihm wie in einer uralten Ehe. Worte waren nicht nötig, man verstand sich auch so. Zugleich wurde der Umgang etwas lax. Ein Schlendrian im Wechsel von Vergessen, Übersehen und Wiederaufmerken stellte sich ein. Helles Entzücken, das Aufjagen von Ideengestöbern, das der Löwe früher in ihm bewirkt hatte, blieb aus.
Auch der Löwe hatte seine Stimmungen. Blumenberg verstand sich fein darauf. Manchmal hatte der Löwe eine mürrische Nacht und schlief, den Kopf vom Schreibtisch abgewandt, und kein Härchen auf ihm regte sich. Dann mühte sich Blumenberg vergeblich, mit einer Satzkanonade mehr Leben in seinem Löwen zu entfachen. Wenn die Ägypter behaupteten, der Löwe sei stärker als der Schlaf, er wache immer, so traf das auf seinen Löwen nicht zu. Sein Löwe war über weite Strecken der Nacht provozierend schläfrig. Vielleicht verfügten die Ägypter über andere Mittel, ihre Begleitlöwen in einem aufmerksamen Zustand zu erhalten.
Längst war er dazu übergegangen, wie ein alter Freund mit ihm zu sprechen — tu nicht so! stell dich nicht so an! konnte er lakonisch zu ihm hinunterrufen, wenn sich der Löwe wieder einmal weigerte, von ihm Notiz zu nehmen. An der Art, wie der Schwanz zuckte, konnte Blumenberg ablesen, ob es sich um eine nervöse, ungeduldige Reaktion handelte oder ob der Löwe, indem er bedächtig die Schwanzquaste über den Teppich führte, ihm seine Zustimmung bedeutete. In seltenen Fällen ließ der Löwe aus der Tiefe seines Bauchs einen Grimmlaut hören, etwas zwischen einem Seufzer und einem Grunzer, dann antwortete Blumenberg: Ahh! Wieder nicht zufrieden, mein preziöser Kamerad! Er nannte den Löwen einen Meister des unscheinbaren Ausdrucks, oder — in Abwandlung eines Satzes, den Nietzsche über sich selbst gesagt hatte — einen Possenreißer schläfriger Ewigkeiten.
Mit der Zeit gab es jedoch viele Nächte, in denen Blumenberg seinen Löwen vollständig vergaß. Anfang September des Jahres 1994 blieb der Löwe während der Nacht zum ersten Mal verschwunden. Blumenberg fühlte eine brennende Erregung in seiner Brust. Fortwährend umrundete er den Schreibtisch und das Stehpult. Auch Musik half nicht, ihn zu beruhigen. Er konnte sich ein Buch vornehmen, die Zeitung, er konnte den Fernseher anschalten, nichts half. Immer wieder suchten seine Augen die Fenster ab, ob der Löwe vielleicht vom Garten hereinkommen würde. Hörte er es draußen rascheln, machte er die Tür auf, was ihm gleich unsinnig vorkam. War der Löwe da, vergaß er ihn. Fehlte der Löwe, fühlte er sich beraubt, mehr als das, er fühlte sich bedroht.
Im Bett nahmen die bedrückenden Brustschmerzen zu. Auch der Kopf schmerzte, ihm wurde übel. Er geriet in eine so angsterfüllte Stimmung hinein, als hätte ihn die Katastrophe seiner Jugend frisch geholt. In eine tiefe Ohnmacht gesunken, wurde er tags darauf ins Krankenhaus eingeliefert.
Als er wieder nach Hause zurückkehren durfte, war etwas Unwiderrufliches geschehen. Die gebrechliche Letztzeit war über ihn gekommen. Daran konnte auch der Löwe nichts ändern. Zwar freute Blumenberg, wie ruhig der Löwe während der ersten, wieder im Arbeitszimmer verbrachten Nacht dalag. Alles wie eh und je. Aber es war eine zittrige Freude. Wenn nur die Kraft dazu gereicht hätte, aufzustehen, wäre er zum Löwen hinübergegangen und hätte sich über ihn gebeugt, um mit der Hand über sein Fell zu streichen. Blumenberg war nun über alle Maßen erpicht darauf, seinen Löwen endlich zu berühren, aber allein die Vorstellung, sich niederbeugen zu müssen und dabei womöglich über dem Löwen zusammenzubrechen, hielt ihn in seinem Arbeitssessel fest. Zitternd vor Schwäche saß er wie ein Gefangener darin. Der drei Meter entfernte Löwe genügte nicht mehr zu seiner Beruhigung. Ohne innigen, handgreiflichen Kontakt hatte er dem lahmen, brütenden Stieren in den Tod hinein wenig entgegenzusetzen. Er sah sich als besiegt an und konnte keinen Trost daraus ziehen, daß die echte, die wahre Geschichte immer zu Füßen der Besiegten saß, die den Tod vor Augen hatten. Die feinen theologischen Obertöne, die sein Werk auszeichneten und die der Löwe in seiner Schwindelexistenz zu bestätigen schien, nutzten ihm jetzt, selbst mit Blick auf diesen gewaltigen Zeugen, wenig — es war ihm nicht möglich, frei heraus zu glauben, daß man nicht einfach nur tot sei, wenn man tot ist.
In manchen Nächten stürzte er in eine tiefe Verzweiflung. Alles war umsonst. Umsonst hatte er so hart gearbeitet. Bald würde es niemand mehr geben, der seine Bücher las. Sie würden in Vergessenheit geraten. Er erinnerte sich an manchen stolzen Satz von ehedem, etwa, er werde seine Lebensarbeit nicht im Stich lassen, bevor die letzte Zeile stehe. Solche Sätze kamen ihm nun aufgeblasen vor. Das Verschwinden seiner öffentlichen geistigen Präsenz hatte begonnen. Er war noch nicht tot und schon nicht mehr vorhanden.
Unbemeistert blieben auch Dinge, die ihm früher keine Mühe bereitet hatten, etwa eine der übereinander gelagerten Kisten aus dem Regal zu ziehen, um an alte Aufzeichnungen und gesammeltes Bildmaterial zu kommen. Er wollte das Abbild zweier Löwen finden, die ihre Tatzen in einen Lebensbaum schlugen, konnte die zugehörige Kiste aber nicht herausbringen. Statt dessen fand sich eine alte Zigarrenkiste mit einer vertrockneten Brasil darin, Sorte, die er in den fünfziger Jahren geraucht hatte. Er klappte den Deckel wieder zu.
An Arbeit war nur mehr selten zu denken. Das Verfassen eines Briefs nötigte ihm viel Kraft ab. Selbst die Telephonate mit dem geliebten Redakteur, die er früher so genossen hatte, waren nur noch selten möglich. Es strengte ihn zu sehr an, sich zu konzentrieren. Auch schien der Redakteur zu merken, daß es ihm nicht gutging, was er, Blumenberg, wiederum als peinigende Bürde für das Gespräch empfand. Zwar kehrte in den folgenden Monaten manchmal etwas von seiner alten Kraft zurück, dann konnte er die Arbeit in gewohnter Weise wiederaufnehmen, aber der erfrischte Zustand hielt nicht lange an. Er wußte um die Kürze der Frist, die ihm noch gewährt war.
Am 28. März 1996 fand ihn seine Frau tot im Bett liegen. Eine Spur Löwengeruch hing im Zimmer, aber so gering, daß die Frau in ihrer Aufregung und der herbeigeholte Arzt nichts davon bemerkten. Eine angebrochene Tafel Schokolade von Cailler war dem Toten aus der Hand geglitten. Ein Stückchen Silberpapier lag auf dem Boden. Auf Blumenbergs Pyjamajacke und auf der Bettdecke hatten sich kurze, stumpfe, gelbliche Haare verfangen, die schwerlich von einem Menschenkopf stammen konnten. In dem geschäftigen Hin und Her um den Toten blieben sie unentdeckt. Die Anzeigen, die später verschickt wurden, zierten Briefmarken mit dem Löwen von Lübeck.
Im Inneren der Höhle
Eine Bleibe, hatte Samuel Beckett geschrieben, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser. Groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich. Beckett hatte einen zylindrischen Behälter vor Augen. Oben zu. Kein Entkommen. Nicht allzu hoch, nur sechzehn Meter. Im Kopf des Lesers muß jetzt ein davon verschiedener Behälter entstehen, der allerdings von Becketts Verwaiser wichtige Objekte, Lautäußerungen und Gesten empfangen hat, zum Beispiel Leitern, zum Beispiel in abgeschwächter Form das Keuchen, zum Beispiel das selbstvergessene, verlangsamte Spiel der Finger — groß, der Raum, wandelbar groß und größer, kein Raum der Einsperrung, zumindest keiner engen, mit hoher Decke, mit vom Hauptraum ins Unabsehbare abzweigenden Nebenräumen. Licht. Mal schwach, mal stärker, Licht, möglicherweise von überall her kommend, Licht, wie gelenkt vom Auge des Betrachters innerhalb der Höhle, aber ein beharrlich sich gleichbleibendes Licht, wenn auch nur ein Schimmer, vom schmalen Ausgang der Höhle her, allerdings aus weiter Ferne kommend, für müd gewordene Existenzen schwer zu erkennen, schwer zu erreichen. Still hier drin. So still, daß ein einzelner Laut wie gestochen aus dem Schweigen heraus erklingt. Wie ein auf den flachen Spiegel eines Höhlensees aufschlagender Tropfen. Aber es ist unmöglich zu hören, wie die Welt altert, trotz der dringlichen Schärfe, mit der sich jeder Laut zu hören gibt.
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