Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 26
- Категория: Проза / Современная проза
- Автор: Peter Wawerzinek
- Год выпуска: -
- ISBN: нет данных
- Издательство: -
- Страниц: 53
- Добавлено: 2018-12-10 08:03:17
Peter Wawerzinek - Rabenliebe краткое содержание
Прочтите описание перед тем, как прочитать онлайн книгу «Peter Wawerzinek - Rabenliebe» бесплатно полную версию:Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.
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Ich war das Heimkind. Ich war so frei im Heim, unendliche Wochen, Monate, Jahre in kindlicher Seligkeit. Immer draußen unterwegs, um nicht drinnen sein zu müssen. Spiele spielen, die auf nichts Besonderem beruhten. Es gab ausgeklügelte Techniken, Dinge zum Spielen zu verwenden, die nicht für das Spielen gedacht sind. Ich erinnere mich nicht im Detail, wie wir es schafften, an der Lieblingslaterne hoch oben unsere Seile zu befestigen, sie so zu drehen und verwirken, dass wir mit ihnen den Pfahl umwinden konnten und nach einer gewissen Weile dann von den Seilen um uns und um andere Kinder herumgeschleudert wurden, wie auf einem Kettenkarussell ohne Ketten. Ich weiß ein großes Kind, abseits stehend, das uns den nötigen Schub erteilt, und dass die einzelnen Drehs, wie lange ich sie auch in Erinnerung habe, nur kurze glückliche Drehmomente waren. Ein kurzer, kostenloser Zeitvertreib. Ein Kind nach dem anderen, alle fünf Kinder, fliegen wir um den Lampenpfahl herum, sind für die kurze Frist kleine Sterne am Kinderspielhimmel.
Und dann ist uns schwindlig, und alles fängt von vorne an. Ein Steinchen wird ins Feld geworfen. Man muss hüpfen und zum Ende der auf das Pflaster gezeichneten Figur kommen, den ausgeworfenen Stein nach einem System im Feld überspringen, was im Einzelfall bedeutet, dass du dabei eine komische Figur machst, am Spagatschritt zerbrichst. Lasst uns schweifen ins Gelände, über Täler, über Höhn, wo sich auch der Weg hinwende, wir sind jung, und das ist schön, geht darob der Tag zur Neige, leuchtet uns der Sterne Schein, Bruder, schnell, den Rucksack über, heute solls ins Weite gehn, Regen, Wind, wir lachen drüber, wir sind jung, und das ist schön. Aber bist du adoptiert und nicht mehr im Heim, so hast du kein Eigen mehr, bist Teil geworden von einem kleinen Ganzen, der Familie, ein Familienmitglied neben anderen Familienmitgliedern und anderen Familien in der Straße, in der ganzen Stadt. Wenn wir die bessere Sonntagskleidung tragen, vor dem gemeinsamen Ausgang stehen, verbieten sich derartige Spiele. Wir stehen im Freien vor der Haustür, den Hecken zur Straße hin und haben abzuwarten, dass die Familie eine Gruppe bildet und alle beisammen sind, der Onkel auf Besuch, die geschwätzigen, immer trödelnden Tanten, Cousin, Cousinen. Wir sehen uns an, der Nachbarjunge, das Nachbarmädchen und ich und es ist uns peinlich, so hergerichtet und angezogen gesehen zu werden. Zum Ausgang gekleidet, kannst du als Familienmitglied Kurzweil nur vorsichtig abhalten und eben nur zum Schein takeln, schubsen, auf dich aufmerksam machen, weil die Anzugsordnung zu schonen ist beim Kinobesuch. Man gibt sich ein bisschen ausgelassen, riskiert die sanfte Form des Tobens, ohne Hinfallgefahr und aus ihr resultierendes Verschmutzen. Wenn es regnete und sich die Rinnsale an den Bürgersteigkanten ausbreiteten, falteten wir aus Papier kleine Boote, die sich von den Wassern mitreißen ließen, beim Wettrennen unserer Papierboote bemerkten wir, dass wir uns beeilen mussten. Um nur nahe am Geschehen zu bleiben und am Ende des Unterfangens zu sehen, wessen Schiffchen jedweder Gefahr ausgesetzt zum Sieger geworden war, verhedderten wir uns im Geäst, patschten durch große Wasserpfützen, machten uns barfüßig, in bis über die Knie umgekrempelten Hosen steckend. Und träumten alle vom eigenen Schiff, dem kleinen Segelboot mit Leinensegel, Seilen, Pinne, Vorschot und einer Kajüte, die Platz für uns alle bietet, deren Segel sich blähen. Das Boot der Träume, das es aufnehmen kann mit anderen Traumschiffen.
Trieb, von August Stramm:
Schrecken Sträuben, Wehren Ringen, Ächzen Schluchzen, Stürzen, Du!
BEIM RÜBENHACKEN geht uns Roswitha in der Ackerrille voran. Wir halten absichtlich Abstand. Es ist uns zusätzlich zur Hitze vom Anblick der Roswitha heiß. Wir sind für die Erntehilfe abgestellt. Der Rücken schmerzt vom Mühen und Bücken. Wir hacken die Setzlinge ohne Konzentration. Roswitha steckt in nichts als ihrer Haut, die mit einem Badeanzug überzogen ist, der in ihrer Arbeitshose verschwindet, besser aus ihr hervor aufblüht, hell und grün. Hinter der Roswitha gehend, sind ihre großen Titten als Überbreite auszumachen. Die zierlich gebaute Roswitha hat die dicksten Brüste aller Mädchen auf dem Erntefeld, die Jungen drängeln sich in ihrer Rille und laufen ihr nach wie Schafböcke, dicht nacheinander. Ich schlage mir den Knöchel auf mit meiner Hacke. Heinz schwindelt beim Anblick der Wölbungen, die Verlockung wird bei ihm so groß, dass er am liebsten hingehen, die unfassbar fernen Busen ergreifen und drücken würde. Roswitha schuftet und kommt zügig voran. Roswitha ist am Tagesende die beste Rübenhackerin der Riege und hat von dem Aufruhr hinter sich nichts mitbekommen. Ich sehe mich wieder in der Kammer hinter der Toilette, wo der Adoptionsvater schulische Akten in Regalen verbirgt. Dort halte ich mich versteckt, in der kurzen Zeit, die Roswitha bei der Adoptionsmutter Nachhilfe bekommt. Ich sehe wieder, wie sie sich die Hände wäscht, das Haar kämmt, auf dem Klo sitzt. Ich mache mich schmal. Ich halte die Luft an. Ich belausche das Tun der Roswitha in der Toilette. Ich bilde mich auf dem Bücherdachboden weiter fort, durchsuche die Bücher nach erregenden Bildern, erforsche den Mund-zu-Mund-Kuss, lese von Dingen, die obszön genannt und tabuisiert worden sind. Das Füßeküssen. Der Kuss beim Akt. Der Judaskuss, das Zeichen des Verrates. Eine Schlange kommt aus einer Säule hervorgekrochen und sagt: Das Mädchen, das dich küsst, wird deine Königin sein. Brutus fällt auf die Knie, rutscht auf den Bauch, küsst die Mutter Erde, wird von ihr geküsst, steht in dem Buch beschrieben, wo es heißt, auch Brutus werde töten, was ihn zuerst umfasst und küsst. Dornröschen wird wachgeküsst. Der Wunsch zu küssen lenkt mein sexuelles Erwachen. Ich will bei den Mädchen landen. Dornröschen, nimm dich ja in acht, Taler, Taler, du musst wandern, von der einen Hand zur anderen, da kam die böse Fee herein, Dornröschen, schlafe hundert Jahr, Brüderlein, komm tanz mit mir, beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum wuchs die Hecke riesengroß, Dornröschen, wache wieder auf, wieder auf, wieder auf. Die Mädchen stehen in Gruppe und versuchen einen langen Faden aufzugreifen, weiterzureichen, der sich durch ihr Tun vernetzt und Muster annimmt, die in immer komplizierter werdender Greiftechnik mit den Fingern übernommen werden müssen. Wir Jungen zeigen Gegenstände her, Zeitungsausschnitte, Feuerzeuge, Spielkarten, mit denen wir spielen. Einer muss die Hand hinhalten, einer macht den Rücken für uns krumm. Wir messen unsere Kräfte, wir fangen an zu lachen, wiehern, benehmen uns wie betrunken, stieben auseinander, halten uns die Bäuche, kriegen uns ein, sind mit einem Mal wieder ernst und beherrscht, als wäre eben nicht Tobsucht, Albernheit angesagt. Wir sind in dem Alter, in dem wir lieber murmeln; uns auf den Boden werfen, mit den Augen auszumessen, wessen Glaser näher am Loch liegt. Wir möchten unser Springseil durchs Leben schleppen und sind dem Springseil entwachsen. Doch mittendrin wird uns das Springseil peinlich, wir lassen es liegen, wo wir es fallen lassen, werfen es nicht fort, sondern übergeben es an die nachfolgende Generation. Wir sind unterkühlte Jungen auf dem Weg zum Mann. Die wenigen nahen Momente mit den Mädchen beginnen wir zu genießen, wenn eines uns berührt, werden wir abwesende Geschöpfe, auf das andere Wesen eingenormt, das Mädchen, mit dem wir über ein Seil springen, von anderen Mädchen geschwungen. Mädchen, deren Nähe wir so intensiv spüren, für deren Nähe wir alles hingeben, jede Achtsamkeit uns gegenüber verwerfen, das einigende Jungengefühl aufgeben, uns sticheln, in Grund und Boden kommentieren, was manchen von uns aufbringt, rot werden und hinreißen lässt, Dinge zu tun, die man von uns nicht kennt, wie sich wegen einer Nichtigkeit kloppen.
Die meisten Menschenkinder kommen mit den Farben der Schmetterlinge bunt zur Welt, grad wie die Paradiesvögel.
SIE GLEICHT WOHL einem Rosenstock, drum liegt sie mir im Herzen. Ich entkleide mich. Ich stehe nackt im Raum und spüre die Kälte der Nacht nicht. Ich bin dreizehn Jahre. Sie trägt auch einen roten Rock, kann züchtig, freundlich scherzen, sie blühet wie ein Röselein, die Bäcklein wie das Mündelein, liebst du mich, so lieb ich dich, Röslein. Ich will küssen. Ich will den ersten Kuss, will die Berührung eines anderen Menschen mit den Lippen, nicht als Geste der Zuneigung. Das Röslein, das mir werden muß, beut mir her deinen roten Mund, Röslein auf der Heiden, ein Kuß gib mir aus Herzensgrund, so steht mein Herz in Freuden, küßt du mich, küß ich dich, Röslein auf der Heiden. Ich will nicht irgendein Mädchen küssen. Ich will Roswitha küssen. Wer ist, der uns dies Liedlein macht? Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, Roswitha in den Park zu bestellen. Es ist ein kalter Novembertag. Sturmwarnungen im Radio. Die herbstsonnenverwöhnten Blätter haben keine Zeit, sich sanft aus ihren Verankerungen zu lösen, sondern sehen sich brutal vom Ast gerissen. Kein größer Freud auf Erden ist, denn der bei seiner Liebsten ist. Nach dem Schneefall der Vornacht liegt im Wäldchen eine zentimeterdicke Schneedecke. Roswitha kommt, und ich sehe ihr an, dass sie friert. Wir gehen schmale Wege. Ich bin Belmondo, Roswitha ist meine frierende Deneuve. Wir gehen wie in einem filmischen Streifen über den Schnee im Wäldchen auf und ab. Wir sind das Filmpaar im wundervollen Schneetannenwald. Roswitha Deneuve ist eingemummelt, was ich von ihr sehe, ist wunderschön. Wir gehen auf die Liebesschlucht zu. Der Wind benimmt sich zu grob vorne entlang der Steilküste. Wir kommen in den kleinen Waldparkabschnitt mit seinen zwei verschneiten Bänken. Auf Höhe des Findlings, der als Ehrenmal für sowjetische Soldaten fungiert, unterm roten Stern, halte ich den Augenblick für angemessen. Ich stehe meiner Deneuve gegenüber. Sie hält ihren Kopf unter der Kapuze versteckt, nichts ist vom wundervollen Haar, unter ihrer Kapuze versteckt, zu sehen. Ich stehe bar jeder Kopfbedeckung. Schneeflocken setzen sich auf mein Haar und schmelzen sofort. Ich bin auf den ersten innigen Kuss versessen, bin im Sprung begriffen, bin das wilde Kusstier, das Roswitha anfallen wird, das arme Reh, das in den Park gekommen ist und nicht ahnt, was sich der Schwerenöter für diesen Tag vorgenommen hat. Ich fasse Mut. Ich bin ein Schiff und bin das Meer und bin mein Kapitän. Es treibt mich auf Roswitha zu. Ich greife an, lange hin, nehme sie; alle Worte beschreiben nichts und geben die Situation nicht wieder, küsst ein Junge zum ersten Mal einen Mädchenmund. Alle Leitungen brennen durch. Aber der Kuss bleibt hinter den Vorstellungen vom Küssen weit zurück. Roswithas Nase läuft. Ich presse Roswitha in Manier des ungezügelten Casanovas den unendlichen ersten Kuss mitten auf den Schnoddermund. Kann nicht ablassen. Spüre den kalten Nasenrotz Roswithas. Es gelingt mir nicht, den Mund von meiner Novemberschneedeneuve zu lösen. Der Kuss beginnt mich zu ärgern, mein Benehmen Roswitha gegenüber ärgert mich. Ich kann nicht von der Roswitha lassen. Ich küsse sie und küsse und merke nicht einmal, wie sie um Luft ringt, sich gegen meine Aufdringlichkeit sträubt, halte für Wallung, wogegen sie strebt, nehme ihre verstärkten Bewegungen für innige Teilnahme, setze im Kuss zum neuerlichen, fortgeführten Kuss an, fasse ihren Kopf, bin wie von Sinnen, nicht fähig, mich wieder einzukriegen, abzubrechen, wegzulaufen, mich meiner zu schämen, die Schmach zu überdenken. Ich spüre nichts, fühle nicht einmal unterbewusst, instinktiv, dass meine Deneuve weit entfernt ist, an meinen Küssen Gefallen zu finden. Roswithas Nase läuft stärker. Ich presse sie so wild, dass sie einknickt. Und ich Dummer sinke mit ihr in den dünnen Schnee. Roswitha stößt mich im Sinken von sich, rollt beiseite, erhebt sich, ist über mir, der ich beseelt auf dem Rücken liege, die Augen geschlossen, bis Roswitha über mir ist und wilde Schläge gegen mich setzt, dass es klatscht und klatscht, ins Gesicht, auf den Kopf, über den Körper verteilt, wohin sie trifft, breitbeinig über mir stehend, Schnee und Dreck regnet auf mich nieder; und die wütende Roswitha behält mich im Auge, Hass im Blick, sagt sie böse Worte: Schwein, Perverser. Schäm dich, ruft sie noch im Weglaufen, schreit und läuft von Schreien angetrieben fort aus diesem Erinnerungsbild, und ich liege versteinert die lange schöne, grausig wohlige Weile, die ich mich an Roswitha erinnere, da, ehe ich mich aufrichte und der Roswitha nach aus meiner unrühmlichen Erinnerung stehle. Die Zeit frisst ihre liebsten Kinder. Unsere Busenkönigin ist vor einigen Jahren am Brustkrebs gestorben, heißt es auf dem einzigen Klassentreffen, zu dem ich über dreißig Jahre verspätet gefahren bin.
Der Adoptivsohn hat etwas ausgefressen. Die Hand der Adoptionsmutter liegt auf dem Geländer. Das Geländer hat sie eigenhändig gestrichen und die Latten mit stinkender Farbe grell lackiert. Jede Sprosse in einer anderen Farbe, wie bei einem Regenbogen. Die Farbfolge ist mir auf ewig als Rot zu Orange und Gelb zu Grün zu Blau und Indigo zu Violett in Erinnerung; und runter die Treppe von Violett zu Indigo zu Blau zu Grün zu Gelb zu Orange zu Rot. Oben an der schmalen Treppe steht sie als Despotin und blickt auf mich dort unten herab. Wie einsichtig und optimistisch ich auch vor ihr stehe, mich für was weiß ich für Taten entschuldigen mag, sie nimmt keine Entschuldigungen hin, sondern zeigt sich ungehalten, wünscht keinerlei Diskussionen, spricht von Ansehen und Verlust, den ich ihnen allen als Schaden zugefügt. Erwischt und gescholten, tapse ich die Stufen der Treppe empor, nehme den letzten Treppenstufenabsatz mit einem Sprung in den Flur auf sie zu und an der Adoptionsmutter vorbei, die den missratenen Jungen ins Wohnzimmer leitet, wo der Adoptionsvater am Tische sitzt, die Hände übereinandergelegt, in Amt und Würden, die Standpauke zu halten, die sie ihm eingeredet hat und für angebracht erachtet. Eifrig nimmt sie mir vor dem Eintritt den Schulranzen ab, bringt mit ihren Fingern mein Kopfhaar in Ordnung, versucht mich, mit der Bürste zur Hand, von Schmutz an der Kleidung frei zu bürsten, dass ich picobello vor dem Adoptionsvater stehe, wie vor einem Beamten, dem ich nicht umständlich kommen soll, sondern die Sicht der Dinge hersagen, weil er sowieso von meinen Schandtaten weiß, was er mich auch fragt, weil sie immer alles schon gewusst haben, noch bevor ich den Nachhauseweg angetreten habe. Und obwohl sie Bescheid wissen, habe ich anzutreten, dazustehen und zu erzählen, was sie zu hören wünschen. Also leiere ich meinen Text herunter, variiere die Zugeständnisse, gebe mal dies und dann wiederum das zu.
Die Adoptionsmutter wartet im Flur hinter der Tür den jeweiligen Ausgang der Standpauke ab. Die Großmutter verhält sich still und denkt sich ihren Teil. Ich sehe mich vom Adoptionsvater mit einer Verwarnung oder Strafe entlassen. Die Adoptionsmutter nimmt mich im Flur in Empfang, um mir zu sagen, was für ein Glück im Unglück ich hätte, so einen milden Richter als Adoptionsvater zu haben. Sie redet, wenn sie von mir persönlich tief enttäuscht worden ist, von den rezessiven Genen, dem Dilemma der Erbkrankheit, den üblen elterlichen Genanteilen, Gene meiner Abstammung, die schlechtesten der schlechten; bösartige Gene, gegen die der allerbeste Wille nicht ankommt.
Die Großmutter hält sich beide Wangen vor Schrecken und schüttelt den Kopf. Ihre Gesten an mich bedeuten ihr Nein zu dem Zeug, das da dem Munde ihrer Tochter entspringt, als wüsste sie, was der Verfehlung auf dem Fuße folgt, nämlich der innere Aufschrei, das Aufbegehren, längst fällig, viel zu lange in mir gestaut, eines Tages wird es aus mir hervorbrechen und mich laut kontern lassen, dass die Adoptionsmutter nicht meine Mutter ist und niemand mir nie wieder hier was zu sagen hat. Und wie ich die Tür hinter mich werfe, weiß ich die Großmutter in ihrer Ahnung bestätigt und mich auf dem rechten Pfad, dem der beginnenden Abnabelung, des aufkeimenden Selbstvertrauens. Ade, du lieber Tannenwald, ade, wie rief die Scheidestund so bald, mir ist das Herz so trüb und schwer, du siehst ihn nimmermehr, ade, du liebes Waldesgrün, ihr Blümlein mögt noch lange blühn, mögt andre Wandrer noch erfreun und ihnen eure Düfte streun, und scheid ich auch auf lebenslang, Wald, Fels, Vogelsang an euch, an euch zu aller Zeit gedenke ich in Freudigkeit.
Жалоба
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