Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 27

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Die Adoptionsmutter wartet im Flur hinter der Tür den jeweiligen Ausgang der Standpauke ab. Die Großmutter verhält sich still und denkt sich ihren Teil. Ich sehe mich vom Adoptionsvater mit einer Verwarnung oder Strafe entlassen. Die Adoptionsmutter nimmt mich im Flur in Empfang, um mir zu sagen, was für ein Glück im Unglück ich hätte, so einen milden Richter als Adoptionsvater zu haben. Sie redet, wenn sie von mir persönlich tief enttäuscht worden ist, von den rezessiven Genen, dem Dilemma der Erbkrankheit, den üblen elterlichen Genanteilen, Gene meiner Abstammung, die schlechtesten der schlechten; bösartige Gene, gegen die der allerbeste Wille nicht ankommt.

Die Großmutter hält sich beide Wangen vor Schrecken und schüttelt den Kopf. Ihre Gesten an mich bedeuten ihr Nein zu dem Zeug, das da dem Munde ihrer Tochter entspringt, als wüsste sie, was der Verfehlung auf dem Fuße folgt, nämlich der innere Aufschrei, das Aufbegehren, längst fällig, viel zu lange in mir gestaut, eines Tages wird es aus mir hervorbrechen und mich laut kontern lassen, dass die Adoptionsmutter nicht meine Mutter ist und niemand mir nie wieder hier was zu sagen hat. Und wie ich die Tür hinter mich werfe, weiß ich die Großmutter in ihrer Ahnung bestätigt und mich auf dem rechten Pfad, dem der beginnenden Abnabelung, des aufkeimenden Selbstvertrauens. Ade, du lieber Tannenwald, ade, wie rief die Scheidestund so bald, mir ist das Herz so trüb und schwer, du siehst ihn nimmermehr, ade, du liebes Waldesgrün, ihr Blümlein mögt noch lange blühn, mögt andre Wandrer noch erfreun und ihnen eure Düfte streun, und scheid ich auch auf lebenslang, Wald, Fels, Vogelsang an euch, an euch zu aller Zeit gedenke ich in Freudigkeit.

Es häufen sich die Tage, an denen ich es nicht mehr aushalte. Verlassen, verlassen, verlassen bin ich wie ein Stein auf der Straße, so verlassen bin ich, keinen Vater, keine Mutter, kein Feinsliebchen hab ich, jetzt seh ich recht deutlich, wie verlassen bin ich, jetzt geh ich zum Friedhof zum Friedhof hinaus, dort knie ich mich nieder und weine mich aus. Ich bin aus dem Adoptionselternhaus ausgerissen, ich bin der sich unbeherrscht aufführenden Adoptionsmutter entkommen, die an diesem Tag völlig durchgedreht ist, mit ihrem Ausklopfer hinter mir herlief und wie irre schrie: Das sind die Gene. Die Gene schlagen durch. Du bist voller Gene deiner Mutter, die ein Freudenmädchen ist, ein Freudenmädchen, ja, das ist sie, damit du es weißt, was den Vater anbelangt, eingelocht gehört der Verbrecher wie alle Verbrecher seines Schlages, diese Nichtse von Saufausen, von denen du auch einer wirst, wenn du dich von diesen Genen lenken lässt. Sie ringt um weitere Schimpfworte, bringt aber keine Schimpfworte mehr zusammen. Zehn kleine Negerlein, die gingen in einen Hain, der eine hat sich aufgehängt, da warens nur noch neun kleine Negerlein, die haben einmal gelacht, der eine hat sich totgelacht, da warens nur noch acht kleine Negerlein, die gingen mal Kegelschieben, der eine hat sich totgeschoben, da warens nur noch sieben kleine Negerlein, die gingen zu einer Hex, der eine wurde totgehext, da warens nur noch sechs kleine Negerlein gerieten in einen Sumpf, da ist der eine stecken blieben, da warens nur noch fünf kleine Negerlein, die gingen mal zum Bier, der eine hat sich totgetrunken, da warens nur noch vier kleine Negerlein erhoben ein Geschrei, der eine hat sich totgeschrien, da warens nur noch drei kleine Negerlein, die gingen am See vorbei, da kam ein großer Hecht geschwommen, da warens nur noch zwei kleine Negerlein, die gingen zu einem Schreiner, der eine hat sich inn Sarg gelegt, da war es nur noch einer, ein kleines Negerlein, das fuhr mal in ner Kutsch, da ist es hinten rausgerutscht, da warn sie alle futsch.

Verhältnis zu den Verwandten des Annehmenden Die Annahme an Kindes Statt begründet zwischen dem Kind und den Verwandten des Annehmenden wie auch zwischen den Abkömmlingen des Kindes und dem Annehmenden und seinen Verwandten die gleichen Rechte und Pflichten, wie sie zwischen leiblichen Verwandten bestehen. Ein Eheverbot zwischen dem Kind und den Verwandten des Annehmenden wird durch die Annahme an Kindes Statt nicht begründet.

BEI MEINEN AUSFLÜGEN in meine Vergangenheit, am Strand zwischen Meschendorf und Rerik kommt mir die merkwürdigste aller Erinnerungen. Ich habe bis heute für das seltsame Geschehen keine rechte Deutung parat. Ich bin eventuell in eine zeitlose Welt gelangt. Ich bin in einen Raum gebrochen, den es im Leben sonst nicht gibt. Der Himmel steht tief und grau. Die Wolken lasten, als wäre der Beginn einer Finsternis aufgezogen, in die ich gerate, um niemals mehr aus ihr hervor aufzutauchen. Der seltsame Tag zeigt Folgen. Ich erinnere mich an die Speisekammer, in ihr mein Riesentopf, angefüllt mit in alter Omamanier von Hand bereitetem Kraut. Kohlkopfviertel, hauchdünn in Längsstreifen teilen, Streifen in den Topf aus Steingut geben, mit Salzschichten versehen, Steintopf bis an den Rand füllen, der ein großer Steintopf ist, hellbraun und dickbäuchig, von außen glatt, oberhalb mit einer Rille für den Riesendeckel versehen. Unterm Deckel dieser umgedrehte, flachgelegte Speiseteller, von einem faustdicken, flachen Sandstein beschwert, am Ostseestrand nahe meinem Lieblingsplatz aufgelesen. Er thront auf dem Teller überm Kraut, das nun Sauerkraut werden kann und dabei die spermafarbige Sauerschaumschicht ausbildet, die den Kohl eindeckt wie schmutziger Schnee. Eine Gewöhnungssache, der Anblick, zugegeben, nichts für übersensible Geister. Und doch ist in einen Schaum zu blicken, derweil ich die Geschichte überliefere, die mir meinen ersten Schrecken eingejagt hat, als ich eine schöne Strecke gegangen bin, von zu Hause abgehauen, entschlossen, die Adoptionseltern für immer zu verlassen.

Ich beschreibe den Strand, den zerzausten, über den ein Sturm gewütet hat, der sich eben legt. Wie ausgerissenes Haar ist Gras und Meergeschling in breiten Mehrfachstreifen auf den Küstensand geworfen. Ich komme an meinen Lieblingsstacheldrahtzaunpfosten, um auszuruhen, mir Gedanken zur Adoption und der Möglichkeit zu machen, endlich alles hinter mich zu lassen, eine eigene Mutter zu besitzen. Hinter mir das militärische Sperrgebiet. Vor meinen Augen horizontloser, nebliger Dunst. Der Tag hüllt sich in diese unvergessliche, so abnorme Trübung, die nicht Tagesanbruch, nicht Tagesausklang ist, eher die Vorstufe zur Hölle, wie ich den Zustand nennen möchte, wenn auch das Bild abgegriffen ist und nicht ganz stimmig. Ich habe über die Jahrzehnte kein besseres Wort gefunden, das Erlebnis zu beschreiben. Ich werde es als meine Höllenvorstufe mit ins Grab nehmen. Die Welt hält Unmengen von Begriffen parat, dass ich mich nicht schämen muss, mal keinen geeigneten Begriff für ein so tiefes Erleben zur Hand zu haben. Ich sitze da und blicke in diese schwammige Begriffslosigkeit, diesen Dunst. Fragt nicht, wie lange ich dort sitze, ehe ich mich erheben kann, den Weg fortsetzen. Aus dem Nichts taucht, wie absichtlich in Schaum gelegt, ein grober, grauer Klump auf, der sich erst bei näherer Begutachtung als ein Kadaver, ein totes Wildschwein herausstellt. Von einem tektonischen Vorfall aus der steilen Küste gelöst und auf den Strand geworfen, denke ich. Ich stehe dem Urtier gegenüber. Ich stucke meine Schuhspitze in die Vergangenheit. Das tote Vieh stinkt nicht. Es ist von keinerlei Konsistenz. Da ist nur dieser ekelerregende Schaum auf dem Tier und die aufkommende Düsternis; beides zusammengenommen zeichnet für jene kindlich scheuen Regungen, die in mir aufsteigen, blicke ich in einen Sauerkrauttopf. Der Stein auf dem Teller ist das Wildschwein am Strande im Schaum.

Ich werde bei dem Anblick unruhig. Ich nehme dem Jungen gleich, der ich gewesen bin, meine Beine in die Hand und laufe fort. Besser gesagt, ich laufe immer noch, das ganze Leben hindurch laufe ich ständig von mir fort, will raus aus diesem Bild, raus aus allen anderen Bildern, weg von diesem Erdenleben, ab durch die Hemisphäre, durch den Schaum, in die weite Unendlichkeit, wo es keinen Kadaver, keinen Schaum, mich nicht und niemanden sonst gibt. Ich fühle, wie ich gefühlt haben muss. Ich spüre das rasende, kleine Herz pochen. Ich stelle Sauerkraut her. Bekannte, Freunde müssen mein Kraut im Topf ansehen, sollen es riechen, sich zum Essen von mir einladen lassen. Kraut aus fahlgrünen Weißkohlköpfen, aufgewachsen beim schleswig-holsteinischen Bauern, der mich über Alexandre Dumas aufklärt, dessen Beschreibung, wie Choucroute herzustellen ist, mit Essig und Wein aus Frankreich konserviert und Meersalz versehen, der Kohl in dünne Streifen geschnitten, auf einer Meersalzmatratze schichtweise gebettet, mit Einstreusein von Wacholderbeeren, Kümmel aromatisiert, in gleichmäßigen Verhältnissen übereinandergelegt, zum Ende hin von grünen Kohlblättern bedeckt, auf sie den Stein zu legen, alles mit einem großen, feuchten Tuch bedeckt, unterm großen Deckel bewahrt. Von Zeit zu Zeit das saure, schmutzige Wasser mit der Schöpfkelle abschöpfen, die Masse durch die Salzlauge á la Dumas ersetzen bis jedweder störende Gestank gewichen ist. Bei der Arbeit ins Schwitzen kommen, eine Frage der Ehre, Schweiß eintropfen lassen, Kohl erwartet Schweiß, Schweiß macht den Kohl fett. Das Kraut wird mit nackten Armen gepackt, über den Rand eines Riesenfasses verbracht, vor die nacktfüßigen Helferinnen geworfen, die im Fass spazieren gehen, mit den Füßen den frisch geschnittenen Kohl verdichten. Hört, wie sie lachen; und trinken den Wein aus Flaschen, absichtlich und reichlich verschüttet, was dem Kraut zugutekommt.

Ihr halbes Leben trug die heute vierundfünfzigjährige Taminah die Leiche ihres Babys in ihrem Bauch, weil sie sich eine Operation nicht leisten konnte. Ärzte in Surabaya auf der Insel Java befreiten die Frau jetzt in einem dreistündigen Eingriff von dem 1,6 Kilo schweren Leichnam. Das Kind sei vor seiner Geburt gestorben, nachdem es sich außerhalb der Gebärmutter entwickelt habe, sagte der behandelnde Arzt Urip Murtejo. Die Frau sei ins Krankenhaus eingewiesen worden, nachdem sie über gelegentliche Bauchschmerzen geklagt habe. Murtejo lag allerdings falsch mit der Vermutung, es sei möglicherweise das erste Mal, dass eine Frau ein vollständig entwickeltes totes Baby über einen derart langen Zeitraum in sich getragen habe. Im Januar hatten Ärzte in Vietnam im Unterleib einer Frau einen fünfundvierzig Zentimeter langen Fötus entdeckt, der fünfzig Jahre zuvor gestorben war.

IN DIESEM ZUSAMMENHANG kommt mir die Geschichte mit der Cousine in den Sinn, in die ich pubertierender Junge verliebt war, mit zwölf, dreizehn Jahren. In Halle an der Saale. Da steht eine Burg überm Tale und schaut in den Strom hinein, das ist die fröhliche Saale, das ist der Giebichenstein, da hab ich so oft gestanden, es blühten Täler und Höhn, und seitdem in allen Landen sah ich nimmer die Welt so schön. Im Sommer sehe ich mich landverschickt. Es geht in die Stadt der Chemiearbeiter. Die Reise ist großartig, das Ziel von Jahr zu Jahr weniger lockend. Ich sitze im Bus. Der Bus setzt mich am Bahnhof ab. Ich werde von der Adoptionsmutter begleitet. Sie erwirbt die Fahrkarte für mich, redet auf mich ein, was ich zu tun und was zu lassen habe, als würde es was nutzen. Wenn ich auf dem für mich reservierten Platz sitze, sind alle Vorgaben vergessen. Ich stehe die Fahrt über am Fenster, zähle Rehe, Hasen, Füchse, Pferde, Kühe, bin die Fahrtzeit über hinlänglich beschäftigt, werde von Onkel Horst abgeholt, der um die fünfzig Jahre alt ist, eine glänzende Glatze zum pechschwarzen Haarkranz trägt, über sein gesamtes Gesicht lacht und stets auch was zum Lachen hat, selbst wenn es regnet, ihn die Leute rempeln. Eine unbekümmerte, regelrechte Frohnatur ist dieser Onkel, fragt lachend an, was die Adoptionsmutter mir da wieder für seltsam alt machende Sachen übergeholfen hat, die nicht zu mir passen, mit denen ich mich in seiner Gegend bei den Kindern lächerlich mache. Ich stimme ihm heimlich zu und habe große Schwierigkeiten mit seinem Dialekt. Die Großmutter belustigt sich über die breite Aussprache der Hallenser: Die sprechen nicht, die maulen. Die lassen zudem im Wald die Hasen runter und sehen dann Hosen über die Lichtung hoppeln. Breiter als der Onkel walzt die Tante den Dialekt aus. Sitzt ewig in ihrer Küche am Küchentisch vorm Aschenbecher und hat allezeit einen Kittel an, besitzt deren viele, trägt sie während der Arbeit im kleinen Kaufmannsladen um die Ecke, beim näheren Hinsehen scheint die Unterwäsche hervor: Kenn di Laut ruhich sän, hob ä nix zu verbärschn oder. Sie trägt den Tag über Kittel. Vielleicht geht sie mit ihrem Kittel auch zu Bett. Sie keucht mehr, als dass sie lacht, wirbelt zu jedem einzelnen Wort ihre Zigarettenhand, haut sich auf die dünnen Schenkel, wobei dann die Asche auf den Fußboden fällt oder als Teilstück auf dem Tischtuch landet, das mit so einigen Löchern versehene, von Kippenglut ins Tuch gebrannt. Sie leckt den Mittelfinger ihrer Hand an, bringt Kuppe und Spucke über die Asche, die im Ganzen am Finger kleben bleibt, was ich als Zauberei ansehe: Gelle, Jungchen, verstehst nichts von Tutenblasen, staunste nur. Zu den Verwandten gehören die zwei Töchter, eine ist dünn, lang und schwarzhaarig und für mich fast schon eine Frau, die andere ist in meinem Alter, kleiner als ihre Schwester und pummelig dazu, mit schönen Grübchen im Gesicht, die erscheinen, wenn das Mädchen lacht. Ich bin in die Pummelige verliebt, der wunderschönen Augen wegen, zwei schwarze Perlen. Durch die Eltern angewiesen, mit mir die Stadt zu erkunden, mir die Schönheiten der Stadt zu zeigen, ziehen wir zu zweit durch die Hallenser Straßen. Das Mädchen zeigt auf ein Haus und erklärt es mir. Das Mädchen zeigt auf einen Platz und unterrichtet mich von ihm, wie auch vom Denkmal, auf dem der deutsche Komponist steht, Vertreter des Spätbarock, in Halle geboren, in Hamburg Konzertmeister am Hamburger Opernhaus, hat seine erste Oper mit zwanzig Jahren geschrieben, Almira, sagt sie. Ich merke mir den Namen der Oper und nehme mir vor, die Oper zu hören und all die anderen Musikstücke, von denen ich aus ihrem süßen Mund erzählt bekomme. Sie sagt Italien, Florenz, Rom und ich sehe der Cousine immer auf den Mund, der von Adel und Geistlichkeit spricht, Kantaten, die Feuerwerksmusik, die Wassermusik. Ich habe noch nie eine klassische Musik gehört. Der ist doch erst aus dem Kinderheim gekommen, sagen ihre Eltern zur Cousine, die meint, ich müsse trotzdem wissen und kennen. Und fühl mich recht wie neu geschaffen, wo ist die Sorge nun und Not, was mich gestern wollt erschlaffen, ich schäm mich des bei Morgenrot. Ich muss die schöne Cousine immer wieder ansehen, wie sich beim Reden die Lippen bewegen, die Grübchen beim Lächeln entstehen und vergehen. Das Haar fliegt nach hinten, wenn sie ihren Kopf bewegt. Ich fahre mit der Cousine Straßenbahn. Straßenbahnfahren finde ich wunderbar. Ich schmiege mich an die Cousine, dränge sie an die Scheibe, folge ihrem Finger, der auf Sehenswürdigkeiten draußen zeigt, rücke dichter und dichter an sie heran. Wir krabbeln einen Berg empor, genießen die Aussicht auf den Fluss unterhalb, die Landschaft hinterm Fluss unterhalb und sitzen in einem Garten, trinken Brause aus dem Fass von dem Geld, das ihr der Vater mit auf den Weg gegeben hat. Auf dem Fluss, auf den Landwegen überall sind sie mit Kutschwerken herumgefahren, früher, haben Salz transportiert, weite Routen ins Land hinein, über die Landesgrenzen hinaus, spricht der Mund. Ob es mir nicht aufgefallen wäre: Halle, Saale, Salze, Salz, salarii. Ob ich wisse, dass Salz einmal das weiße Gold genannt worden ist. Und wie wir aufstehen, weitergehen, fasst die Cousine mich bei der Hand, geht Hand in Hand mit mir bis nach Halle, lässt meine Hand erst am Stadtrand wieder los. Ich bin so glücklich, auch wenn die Cousine so streng mit mir geredet und die Stimme gegluckst hat. Tante und Onkel freuen sich: Wie gut ihr euch versteht. Was für ein schönes Paar ihr seid. Kurz und unabsichtlich kratzt mich die Cousine mit ihrem Fingernagel. Etwas Blut tritt aus, ein dünner Schorf bildet sich. Ich sitze im Zug zurück zwischen Reisenden eingeklemmt und bin mit nichts seliger beschäftigt als meinem kleinen Ratscher, dem Erinnerungsstück an die Cousine, das ich als liebes Andenken an sie und die Tage in der Stadt an der Saale bewahren will. Daheim angekommen, ziehe ich mich auf den Dachboden zurück, verfalle dem ersten, fetten Liebeskummer, stehe stundenlang am Fenster, blicke zum Hof heraus, wo der Hahn den Hennen hinterherrennt, Hühner picken und sich bespringen lassen. Ich esse nicht. Ich halte mich im abgedunkelten Eckchen auf und reiße mir den Schorf von der Wunde, dass Blut austritt; eine Weile geht das so, dann bildet sich kein neuer Schorf; die Wunde heilt aus. Ich ritze meinen Finger, weite den Kratzer der Cousine aus, schneide mir mit der Rasierklinge tief ins Fleisch, will der Cousine später die Wunde zeigen können, in einem halben, einem dreiviertel Jahr, wenn es wieder nach Halle an die Saale geht, die Verwandtschaft besuchen, Onkel und Tante, von denen die Cousine die jüngste Tochter ist und meine Liebe. Ich will die Cousine später heiraten. Ich bin, was die beabsichtigte Heirat und späteren Kindersegen anbelangt, für mein Alter manierlich unterrichtet, weiß selbstredend, dass von den Verwandten eines Adoptionskindes niemand mit mir verwandt ist, ich die Cousine also lieben und heiraten darf und mit ihr ein Kind haben kann, ohne dass das Kind ein schwachsinniger Depp würde. Ich will der Cousine meinen Liebesratscher vorweisen, er wird mein Heiratsantrag sein, ich muss Sorge tragen, dass die Wunde nicht verschwindet.

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