Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 37
- Категория: Проза / Современная проза
- Автор: Peter Wawerzinek
- Год выпуска: -
- ISBN: нет данных
- Издательство: -
- Страниц: 53
- Добавлено: 2018-12-10 08:03:17
Peter Wawerzinek - Rabenliebe краткое содержание
Прочтите описание перед тем, как прочитать онлайн книгу «Peter Wawerzinek - Rabenliebe» бесплатно полную версию:Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.
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Wenn der Minister erst einmal am Reden ist, haucht sie und verdreht die Augen. Wie angenehm verunsichert ich wirke, wenn nicht gar genervt, flüstert sie vertraulich, sagt, dass sie den rachitischen Chemielehrertyp von Schriftsteller so wenig möge wie ich den aufgeblasenen kahlköpfigen Luftblasenballon. Ich solle mich zu ihr setzen; in die Ecke, an den kleinen Tisch; von der Nachspeise kosten, der es an etwas fehle; sie wisse nicht zu sagen, woran, sagt, das Rezept stamme aus Cambridgeshire, gibt kund, Cambridgeshire wäre für seine Aale einstmals bekannt gewesen; ein Blauschimmelkäse stamme von dort, das Dorf dazu heiße Stilton, wenn sie sich den Namen richtig gemerkt habe. Eine weitere Spezialität der Gegend sei Figdget Pie, eine Art Wackelauflauf. Speck, Zwiebeln, Äpfel, Kartoffeln, schwarzer Pfeffer, Apfel im Teigmantel, ähnlich unserem nordischen Himmel und Hölle. Äpfel, sagt sie so freundlich gestimmt, die Kartoffeln des Himmels.
Ich koste die Nachspeise und mache Muskatnuss als fehlende Komponente aus. Sie kramt aus dem Küchenschrank Muskatnuss hervor, dankt und rät, flink zu den anderen zu huschen, wir würden uns später sprechen, sie gäbe mir ein Zeichen. Als sie dann in bläulichen Schalen die Nachspeise reicht, nickt sie mir im Abgehen anerkennend zu. Muskatnuss, wer hätte das gedacht.
Es wird gegessen, geredet und nach dem Mahl geraucht wie unter Männern. Ich dürfe mich ruhig erdreisten, sie mutig um einen Wunsch anzugehen, ihr etwas Persönliches abzuverlangen, fordert die Frau des Pressesprechers beim nächsten Stelldichein in ihrer Küche; als Dank für den Muskatnusstipp. Ich sage, ich stelle mir die Frage, was ich unter all diesen seltsamen Literaten zu suchen habe, und bei einem Minister, der nicht die Spur von Nähe zur Literatur erkennen lässt. Sie und ihr Mann, verrät sie selbstbewusst, hätten sich das ausgedacht. Sie wüssten beide Bescheid über mich, kennten alle meine Bücher, wüssten sogar, was mir im Kopfe rumore. Die Mutter, sagt sie und sieht mich erwartungsvoll an, der Vater. Zwischen den Zeilen spüre man die Mutterproblematik. Sie hätten ihren heimlichen Literaturstar mal von Angesicht kennenlernen wollen, so am gleichen Saum der gleichen großen Ostseeküste wie sie aufgewachsen, so am gleichen Wasser erwachsen geworden, wenn auch jeweils auf der anderen Seite der Ostsee, in einer völlig anderen Gesellschaftsordnung. Es flösse ein Blut durch unsere Adern, unsere Gedanken zeichneten sich durch nahezu identischem Salzgehalt aus. Ihr habe es die Seezungenpassage so angetan, sagt sie, in meinem schönsten Buch, wie sie findet, all meine Bücher seien toll; der Text, den sie meint, befände sich auf der drittletzten Seite. Sie holt das Buch hinter dem Rücken hervor, in dem die besagte Stelle mit einem Lesezeichen markiert ist. Sie steht und hält für eine Weile die Luft an, senkt den Kopf, schlägt die Augenlider nieder, legt, ohne aus dem Buch abzulesen, wie ein Schulmädchen beim Text-auswendig-Aufsagen los: Für mich allein eine Seezunge bereiten, kann ich nicht, es nimmt mich zu stark gegen die hungernde Menschheit ein. Anders verhielte es sich, sollte je eine Frau daherkommen, mir eine Seezunge manierlich zubereiten. Ich höhnte meine weltenhungrige Engstirnigkeit. Ich ließe meinen Gaumen sich hoch erfreuen. Aus innigem Fühlen hervor belobigte ich die Seezungenzubereiterin wie meine leibliche Mutter nie. Ihr Mann, der Pressesprecher, steht in der Küche, klatscht leisen Beifall, lobt den fehlerfrei gesprochenen Vortrag. Die Frau jauchzt in sich hinein, öffnet die Augen, zeigt Mühe, sich in ihrer Küche zu orientieren, wirkt durch den Vortrag verwirrt, sagt, sie sei so froh und stolz, diejenige Person gewesen sein zu dürfen, welche mir Seezunge dargebracht hätte. Ich solle mir einen Ruck geben, den Pressesprecher hier und heute beauftragen, die Mutter für mich ausfindig zu machen. Vorname, Nachname, irgendeine dritte Angabe reichten völlig hin. Es muss doch vorwärtsgehen, sagt sie, hakt mich unter, führt mich ins große Zimmer zurück, wo der dicke Dichter den Minister im Stehen bespricht, ihm erklärt, wie viel besser und weise von ihm gehandelt es sei, die Tochter ein Studium in Amerika beginnen zu lassen, weil Amerika ein wundervolles Land sei, er am liebsten in Amerika leben würde, wenn er es sich leisten könnte. Kein Mensch kann über sein Temperament hinweg. Die ganze Situation ist entschieden peinlich. Ich bin abwesend anwesend. Mich stört die glitschige Ergebenheit, dieses Zum-Munde-Reden nicht weiter, ich will raus und finde bei einem Erfolgsautor, der nach dem Essen losmuss, weil er, wie er sagt, mit einem Stück am großen Theater der Stadt Premiere habe, Mitfahrgelegenheit. Wir sausen auf seinem Motorrad in Richtung Stadtzentrum. Er setzt mich bei mir zu Hause ab, wo ich nicht zur Ruhe komme, keinen Schlaf finde und frühmorgens die angegebene Nummer wähle, die Frau des Pressesprechers prompt an der Strippe habe, wie man so sagt, die mich augenblicklich mit ihrem Mann ins Büro des Verteidigungsministers verbindet, der Freude darüber ausdrückt, wie rasch ich mich in der Angelegenheit gemeldet habe. Er wolle mir bei meiner Mutterfindung behilflich werden. Ich sage den Vornamen und den Nachnamen der Mutter, gebe als weiteres Detail das Wort Rose an. Mehr hat auf dem Schmierzettel aus dem Nachlass der Adoptionseltern nicht gestanden. Wir lebten heutzutage im Zeichen der Drei, jubelt der Pressesprecher am anderen Ende der Leitung. Drei Dinge brauchte es für den großen Personalcomputer. Der dreibeinige Stuhl kippe nicht. Drei Gliedmaßen brächte der Bergsteiger fest am Berg unter, sagt er blumig, wohl um einem schreibenden Menschen wie mir zu imponieren, um mit der vierten, freien Gliedmaße den Gipfel zu stürmen. Her also mit dem wenigen Wissen und ab damit in die Suchmaschine, alles ihr zum Fraß vorgeworfen und schon kann ein Geheimnis nicht länger ein Geheimnis bleiben, die Mutter werde sich nicht vor dem Sohn ins sichere Grab retten. Ich sitze den Tag darauf am Faxgerät. Pünktlich um neun Uhr setzt sich das Faxgerät in Bewegung, spuckt etliche Seiten aus, in denen ich zum einen Kenntnis darüber erhalte, wohin sich meine Mutter verkrochen hat, zum anderen eine mobile Telefonnummer mitgeteilt und zu lesen bekomme, dass die Mutter keinen Festanschluss besitzt. Ich speichere die Nummer unterm Stichwort MUTTER in das Register meines mobilen Telefons und unternehme daraufhin drei lange Jahre nichts weiter, als mich in der festen Gewissheit zu wähnen, nach fünf Jahrzehnten Trennungsphase jederzeit aufbrechen und bei der Mutter auftauchen zu können. Ich nehme es mir vor und verwerfe den Gedanken wieder und wieder, um mich zu beschwören, fünfzig Jahre hindurch hat es des Sohnes nicht bedurft, es gibt keinen nennenswerten Grund, nach solch einer elenden Zeitspanne in Hektik zu verfallen.
VOR DIESER REISE liegen andere Reisen. Ich bin sechsunddreißig Jahre. Ich fahre nach Nienhagen, das Heim ansehen, um das Haus herumgehen, das drei Jahre lang meine Heimstatt war. Wie bekannt mir nach dreißig Jahren das Haus vorkommt und zum Heim das Tor, die Gartenpforte, die da ein Dasein gefristet hat zwischen zwei krummen Pfeilern, leicht schief gen Himmel gerichtet, in trostlos rostigen Verankerungen. Rechts und links faustdicke Lücken, durch die Katze und Hund mühelos hindurchschlüpfen. Die Hecken weiß ich leicht mit Schneepulver bestäubt, oder es handelte sich um eine Weißdornhecke.
Es gibt keine Stunde Null. Kein Tag lässt sich bestimmen. Es ist keine Zeit für Chronologie. Ich lüge, wenn ich die Reise zu Mutter als wichtigste Reise meines Lebens nenne. Ich spreche wahr, wenn ich die Reise nach fünfzig Jahren Trennung als gewagt und niederschmetternd für mich bezeichne, weil ich mir vom Besuch bei der Mutter keinerlei Linderung erwarten darf. Ich hätte fliehen können, nachdem ich das halbe Jahr ausgebildet worden bin, Fluchten zu verhindern, an der Grenze Wache zu schieben, im Frühtau vallera, grün schimmern wie Smaragde alle Höhen, vallera, wir wandern ohne Sorgen singend in den Morgen noch ehe im Tale die Hähne krähen, ihr alten und hochweisen Leut, vallera, ihr denkt wohl wir wären nicht gescheit, vallera, in dieser herrlichen Frühlingszeit, wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen, kommt mit und versucht es doch auch einmal. Auf der Rundreise von Heim zu Heim und zu den Stätten meiner Frühgeschichte wandle ich über den fußschmalen Weg am Sportplatz vorbei zum Waldstreifen hin, durch das Wäldchen genannte Teilstück zur Steilküste, um an meiner Stelle wieder am Geländer die breiten Stufen der Treppe zum Strand hinabzugehen, von dort bis an meine Lieblingsstelle, meinen Aussichtsturm, meinen früheren Ausruhpfosten, um die Einsamkeit von damals auszuleben, in die es mich immer wieder gelockt hat. Jahre später sitze ich also wieder mit dem Rücken gegen den Pfosten gelehnt, suche mit dem Herzen herauszufinden, was ich wohl gefühlt haben mag. Der Wind ist lange Zeit meine Mutter. Der Wind wischt mir die Tränen fort. Der Regen ist eine Zeit lang meine Mutter. Regen nässt mein Haar. Die Wellen der Ostsee sind meine Mutter. Die Wellen wiegen meine Gedanken. Ich halte mich an meinen Schwimmreifen geklammert über Wasser. Die Sonne ist meine Mutter. Der kalte Mond am Himmel ist meine Mutter. Zur Nacht ist die rabenschwarze Nacht lang meine Mutter.
ICH BIN AN DER OSTSEEKÜSTE, mache lange Spaziergänge, denke nach, und ich erinnere mich nach Jahren der Abkehr im Grunde an keine Herkunft, wie ich zwar die Namen der Orte zu benennen weiß, aber nirgends zu Hause bin, keine Heimat habe, mich den Leuten nicht zugehörig fühle, den Menschen gegenüber fern bleibe, mich von den Leuten nie entfernen konnte, weil sie mir nicht nahe waren, sie mich der Bestimmung überlassen haben.
Ich stehe auf dem Hügel. Ich sehe über Landschaft. Alles was vor mir ausliegt, ist gut einsehbar. Nichts ist abstoßend zu nennen. Ich bin zurück. Ich verweile an den Orten, die früher zu mir und meinem Leben gehörten. Niemand außer mir weiß davon, weiß, was ich fühle, wie ich empfinde, wenn ich vor einem Haus stehe, in eine Straße gehe, an einem Zaun stehen bleibe und etwas mit der Hand berühre, was es für mich zu schätzen gibt, in der mir fremd gebliebenen Heimstatt. Ich gehe Wege und fühle mich der Region wieder verbunden. Die Heimleiterin könnte gestorben sein. Die Köchin liegt längst begraben wie auch meine Adoptionseltern.
ES REGNET. Es gibt Schwierigkeiten mit den Scheibenwischern. Ich halte an, verlasse das Gefährt, fummle an den Scheibenwischern, lasse sie zwei-, dreimal gegen die Scheibe klatschen, sitze wieder hinterm Lenkrad und freue mich, dass sie wieder funktionieren. Die Adoptionseltern sind gestorben. Ich bin mir meiner Einsamkeit auf Erden bewusst. Ich bin so allein wie nie in meinem Leben und zu der Frau unterwegs, die nie meine Mutter war, aber doch meine leibliche Mutter ist, mich geboren, mich verworfen hat, alles begonnen, alles ausgetragen, alles beendet, mich ausgelöscht und nie mehr ausgelöst hat, mich in diese Einsamkeit hineingestoßen hat, dieses tiefe Loch, das meine lebenslange Grube ist. Ich bin auf dem Rastplatz nahe der Autobahn. Ich trockne irgendwo die Hände an dem Papier aus dem Papierspender neben dem Waschbecken, ziehe mit dem feuchten Finger die Augenbrauen nach. Ich gehe zur Toilette hinaus. Ich sitze im Wagen. Ich weiß wieder, dass es mir eine Zeit lang unmöglich gewesen ist, schwimmen zu gehen. Ich sah die Haut mit Muttermalen übersät. Zeichen leuchteten auf. Zeichen brennen heute wieder, wenn ich die Erinnerung belebe. Muttermale blühen auf und nehmen rapide an Zahl zu, wenn die Haut mit Wasser in Berührung kommt. Fruchtwasser. Brandblasen. Fruchtblase. Löschwasser, denke ich, sehe mich im Heim in der Badewanne. Zum Glück bin ich allein. Zum Glück bekommt niemand etwas mit. Zum Glück sieht außer mir niemand die Muttermale blühen und zahlreicher werden. Sie erscheinen und breiten sich aus. Sie rücken auf meiner Haut dichter zusammen, bilden Gruppen, rudeln, flirren bis meine Haut ein Himmel ist aus Muttermalen. Wie Sterne leuchten, sehe ich mich in eine von geheimer Wasserzeichenschrift beschriebene, mir zunehmend fremder werdende Haut gepfropft.
Ich stecke in einer Haut, die mich von innen her beschriftet. Mit Botschaften überzogen sehe ich mich, die einzig von der Mutter stammen können. Die Mutter schreibt an mich. Sie schreibt aus mir hervor. Ich fürchte die Schrift, weil ich die Mutter in ihr nicht erkenne, von der Mutter auch nichts weiß; die mir unter die Haut gefahren ist und nun versucht, als Schrift durch die Haut zu mir aufzubrechen. Ich sitze steif am Rand des Strandes. Den Kopf gesenkt, als suchte ich etwas im Sand vor mir. Man lässt mich sein, wie ich momentan bin. Von der Gruppe entfernt, wünsche ich in dem Moment, mir könnte die alte Haut abgestreift und eine neue Haut über den Leib gestülpt werden. Eine frische, frohe Haut. Eine Hülle ohne die quälenden Male. Notfalls hautfrei leben, von Muttermalen verschont. Und plötzlich sehe ich mich als wasserscheuen Menschen, der den Leuten allzu oft rätselhaft ist. An der Ostsee groß geworden, drängt es mich an heißen Tagen nicht zu schwimmen, den Körper im Wasser abzukühlen. Die Liebste hat längst aufgegeben, mit mir in einer Badewanne zusammen sein zu wollen. Ich gehe nicht an Strände. Ich gehe nicht in Hallenbäder. Ich meide Demonstrationen, bei denen man mich mit Wasser bewirft. Ich meide Regen. Ich steige mit anderen Menschen in kein Wasser hinein. Ich dusche nur daheim, wenn ich mich allein weiß. Ich meide jeden Wasserstrahl. Ich schließe mich ins Badezimmer ein. Ich gehe angekleidet hinein und komme vollständig angekleidet wieder heraus. Es ist mein Geheimnis. Es geht niemanden an, was mit mir im Badezimmer geschieht.
ICH ERLEBE DEN ERSTEN SCHÖNEN SOMMER. Ich bin nackt. Es kommt ein Gewitter auf. Ich stehe im Regen. Ich schaue zu den dunklen Wolken hinauf. Ich sehe die Regentropfen bedrohlich auf mich zu rasen. Regentropfen klatschen in mein Gesicht. Ich erlebe das schlagende Glück. Kleine stupsende Ohrfeigen erquicken mich. Ich bebe. Ich verliere Körperwärme. Ich zittere und halte die Hände gen Himmel, will alle Regentropfen greifen, sie in meinen Handschalen sammeln, wie kleine Perlen in meiner Hand halten. Schaut euch dieses Kind wieder an. Was mit ihm ist. Sie holen mich heim. Ich sehe mich gegen meinen Widerstand ins Heim geführt, in die Wanne gesteckt, abgenibbelt, ins Bett gewickelt; und verwundere mich, sehe, was andere nicht an mir sehen. Dass ich von Muttermalen übersät bin. Dass meine Haut wie eine Blumenwiese dunkelviolett erblüht, eine Muttermalwiese ist. Alles kommt vom Wasser her, denke ich. Und also will das Kind unter keine Wasserdusche mehr kommen. Also wehrt sich das Kind mit Händen und Füßen, von der Mutter verschandelt. Führt sich hysterisch auf, der unsichtbaren Male wegen, die schmerzen, wo sie erscheinen, böse Male sind, mir die Haut von innen her verbrennen. Eine tödliche Weide, ein brennendes Hautfeld.
Wissenschaftler des Kings College in London haben zweitausend Zwillingspaare untersucht, die Länge der Chromosomenenden (Telomere) mit der Anzahl der Leberflecke verglichen und je nach Anzahl der Flecken die Probanden in zwei Gruppen eingeteilt, wobei nach der Auswertung die Gruppe mit mehr als hundert Leberflecken auch die längeren Telomere aufwies als die Gruppe mit weniger als fünfundzwanzig Leberflecken. Telomere bilden die Endstücke von Chromosomen. Mit zunehmendem Alter verkürzen sie sich parallel zu den durchlebten Zellteilungen; je mehr Zellteilungen, desto kürzer sind die Telomere, je kürzer sie sind, desto älter die Zelle und damit auch der Mensch. Telomere sind wie Endstücke von Schnürsenkeln, die verhindern, dass die Chromosomenschnüre ausfransen. Je mehr Leberflecke ein Mensch auf seiner Haut versammelt, desto weniger kann ihm der Alterungsprozess was anhaben, umso intensiver wird er dem Tod widerstehen, wenn er Glück hat, wird er deutlich langsamer als andere Menschen altern. Ich will die Flecken auf meiner Haut, die sich unter Wasser bilden und an Zahl zunehmen, nicht. Die Heimerzieherin singt scherzend: Ich fand das ganz große Glück mit dir im Zug nach Osnabrück, Wir fingen an zu schmusen, beim Halt in Leverkusen, dein süßes Muttermal, fand ich in Wuppertal. Ich fühle Bienen unter meiner Haut. Ich spüre wieder dieses Flirren in der Luft und das Flirren von tief innen her. Der Körper, zur Muttermalwabe gewandelt, ein gutartiger Hauttumor, der aus Blutkapillaren bestehend, verschieden gefärbt, je nachdem, ob die Kapillaren arterielles oder venöses Blut führen. Ungefährlich nie, diese Feuermale. Gezielte Behandlungsmethoden, die man je nach Art und Lage des Fleckes anwendet, sind elektrische Verschorfung, Radium in geringer Dosierung, Unterkühlung mit Kohlendioxid und die Entfernung durch herkömmliche Chirurgie oder mit Laser. Ich werde den Gedanken nicht los, dass ich ein Wespennest bin und Wespen zu meinen Offnungen ein und aus fliegen, in mir über Generationen lebend, sich ausbreitend, mir von innen her die Haut beengend. Meine Haut, die nicht die Haut des Kindes ist, das sich seiner Mutterhaut sicher sein kann, sondern eine auferlegte, fremde Haut, als Ersatz für die Mutterhaut, die mir abgezogen worden ist, und in tausend Fetzen zerfiel. Nichts anderes als Transplantation ging mit mir vonstatten, als die Adoptionseltern mich als ihren Ersatzsohn auserkoren, mich in ihr Haus und Leben versetzten. Transplantation. Verpflanzung von Gewebe oder Organen, von einem Lebewesen zum anderen. Herz, Leber, Niere, Knochenmark, Hornhaut, Auge, Bauchspeicheldrüse und Haut. Was transplantiert werden kann, wird verpflanzt. Warum nicht die Krönung? Warum nicht einen Menschen wie Herz und Lunge gemeinsam in eine kinderlose Beziehung transplantieren? Der Patient überlebt, wenn das Kind den neuen Eltern gefällt. Das Kind kann sich nicht beklagen und Einspruch dagegen geltend machen, dass man es verpflanzt hat. Die Verpflanzung der Bauchspeicheldrüse nutzt Personen mit Diabetes. Knochenmark transplantiert man bei Krebserkrankungen und Leukämie. All diese Eingriffe sind mittlerweile medizinische Routine und verlaufen bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Man kann sich auf schwierige Operationen spezialisieren, wie im französischen Lyon, wo man erfolgreich eine Hand samt einem Teil des Unterarmes transplantiert hat. Drei Jahre später wird dem Patient auf dessen Wunsch hin die transplantierte Hand wieder abgenommen, weil ihm die neue Hand seelische Qualen bereitete, er sich wegen ihr zur Einnahme von Immunsuppressiva gezwungen sah und es zu Belastungen kam. Ich bin das Organ bei der Transplantation, nach dessen Befindlichkeit und Immunsystem nicht gefragt wurde. Und natürlich wurde mit dem ersten Tag der Adoption eine Abwehrreaktion ausgelöst. Man hat versucht, die Symptome zu unterdrücken. Man hat sich zielstrebig gegen die Natur des Kindes verwendet. Ich bin durch die Unterdrückung meiner Persönlichkeit als Transplantationsobjekt die ganze Adoption lang anfällig für Infektionskrankheiten. Die Adoption folgt der sogenannte Graft-versus-host-Reaktion. Transplantat gegen Wirt. Die Adoption hätte abgebrochen und verhindert werden müssen, als ich mich zu meinen Ungunsten veränderte, für keine Lockung mehr empfänglich zu machen war. Es wäre keine weitere Abstoßung zu erwarten gewesen, wenn man mich aus der Adoption genommen und ins Heim zurückgebracht hätte. Ich bin ein gebrandmarktes Kind, stecke in einer Brandhülle und entwickle während meiner Adoptionszeit spezielle Absonderungen und Substanzen, die meiner Brandhaut genehm sind. Dieser Haut, in die ich gezwungen wurde, in der ich stecke, die schmerzt und nach Linderung schreit.
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