Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 40

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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Anderer Handlungsort Paris. Filmsequenz. Hauptdarsteller Jack Nicholson. Es ist Nacht in Paris. Nasskalt schaut auch die Leinwand aus. Ein Mann geht über eine Brücke. Pfützen stehen. Die Hände tief in seine Manteltaschen gegraben, steht der Mann am Brückengeländer, schaut über die Seine auf eine Brücke gegenüber. Weit entfernt. Nahe genug ins Bild gerückt. Lichter. Bunte Farbtupfer. Es schneit. Schnee fällt herab. Schneeflocken huschen. Mir stehen kaltfeuchte Tränen im Gesicht. Der Schnee weht aus dem Film, treibt von der Leinwand her in mein Gesicht, berührt meine Wangen, schmilzt, bildet Tropfen, die sich mit meinen Tränen verbinden, abwärtsrollen. Jack Nicholson ist der Mann, der ich bin, und die Seine sieht wie der Neckar aus. Ich bin ans Ufer getreten, mein mutterloses Leben endlich zu überschauen. Ich rede mir Mut zu. Ich erstarke am Leinwandschnee, der flockt so unverbindlich, wie Flocken halt fallen und sich einander nichts angehen.

Am Hafen steht der Kran mit dem abgesenkten Arm. Hat den Kopf auf dem Geländer abgelegt. Der Kran ist schön anzusehen so mit dem gesenkten Haupt, sein Unterbau dem Eiffelturm in Paris ähnlich. Die Seile vibrieren, von Strömungen bewegt, selbst an windstillen Tagen. Ein Mann im roten Overall steht auf einem Gerüst. Das Gerüst besteht aus vier senkrechten Streben. Die Treppe zum Gerüst ist grün angestrichen und mit einem weißen Geländer versehen. Ein zweiter Arbeiter mit einem Kaffeebecher in der Hand durchschreitet/zerschneidet das Bild. Mir ist, als sollte ich nur über den Hafen schreiben, den Kran, der eine Giraffe ist. Ich stehe oft am Giebel, sehe über die Deichkimme auf die Werft, den Fluss, den geknickten Kran und sage mir zum bevorstehenden Muttertreff: eine solche Begegnung, wie ich sie ins Auge fasse, muss eine Sache auf Leben und Tod sein. Ich ließ den Dingen viel zu lange ihren Lauf, begann beliebig zu werden, ein zurückgelassener Hut an einen ausrangierten Garderobenständer gehängt. Jetzt wird es Zeit für mich, dem Lebensende entgegenzugehen, die Mutternndung zu beginnen, die Mutter zu besuchen oder vorzufinden. Die Mutter besuchen meint nicht, zu einem sagenhaften Land unterwegs zu sein. Es geht eher mit mir in einen dunklen Schlauch hinein. Es ist mir dabei, als müsste ich mit bloßer Hand in einen schwarzen Kasten fassen, ohne zu wissen, was in ihm lagert. Man begreift etwas und denkt an Lehm und Schleim. Ich gehe spazieren. Flache Ebenen vor Augen, sehe ich einen Mann, der über Land geht, auf einem Feld arbeitet, so weit wie ich entfernt vom verwirrenden Treiben, den Bahnen, Bussen, Flugschneisen bin, all den Aktivitäten der städtischen Metropolen. Keine Stadt kommt gegen die mächtigen Pflockschläge an, die der Mann erzeugt, der eine Koppelzaunstange nach der anderen in die Erde rammt. Es gibt in keiner Stadt etwas so Nebensächliches zu betrachten wie schwarzbeinige Schafe, die den Deich abgrasen. Kein städtisches Signal wird mir das Geräusch eines pochenden Seils an einem Schiffsmast ersetzen, kein Hochbau kommt gegen den Anblick eines abgelegten Ankers an, der im Hafenareal liegt. Ich reife und ich atme wie unter Schock von den vielen Erinnerungen, die mich befallen. Ich pfeife ein Lied in der Schrebergartenidylle, die man schnell verlassen hat, so handtuchklein, wie das Gelände ist. Ich stakse im Weidenparadies, wo die Kiebitze wie mobile Funktelefone fiepen, wie es die Dichterin Sarah Kirsch herausgefunden hat. Lange, flache, in Wellen gelegte Aufwerfungen von schnurgeraden, kleinen Kanälen zerschnitten, die mitunter so breit werden, dass ich sie nicht überspringen kann und mich damit zu begnügen habe, über die welligen Wiesen den Rückweg anzutreten. Es tapst ein Bauer daher, stellt klar, dass die Äcker, auf denen ich latsche, sein Besitz sind, wie auch die mich umgebenden Felder, Wälder, täglichen Wetter, die Bäume bis nach Moskau und die kiebitzenden Kiebitze auch. Diese Sorte Mensch, auf jedem Klassentreffen der Welt gefürchtet und gemieden. Ausdruck der allgemeinen Gesichtslosigkeit unserer Welt, mit einer gesichtslosen Einheitsfrau und einem Fertigkind zur Seite bestraft, in einem Legoland-Fertigwohnhaus von im Landkaufhaus erworbenen Standardgartenblumen umgeben. Das Leben wie eben von seiner Verpackung befreit. Er rücke ja auch nicht mit seinen Bauernstiefeln in mein Haus ein, erregt sich der Mann über all die Idioten auf seinem Grund und Besitz. Die Zugezogenen. Die unwissenden Wandervögel, Jugendgruppen, die allesamt und ausgerechnet über seinen Acker latschen. Die Dörfler. Die Durchreisenden, Bekannten und Unbekannten. Die Schnauze gestrichen voll habe er. Im Namen der Zukunft, im Namen der Erblast, im Namen von Gut und Böse soll ich zusehen, wo ich bliebe und mich von seinem Acker trollen. Er folgt mir auf seinem Traktor sitzend hinterdrein und steht lange kopfschüttelnd an der Feldrainecke. Am besten wäre es gewesen, er hätte mich totgeschlagen und an den Koppelpfahl gebunden, ein für alle Mal ein Zeichen gesetzt.

ICH LEBE WIE ein Boxer vor seinem Kampf im Trainingscamp, bereite mich auf den Mutterbesuch vor, bin in den Trainingspausen am Hafen, esse Lammfleisch, stemme Muttergedanken wie Hanteln, bin auch mal im Doppelhaus unten am Hafen, wo die Schippersleut hocken. Ehrwürdige Seefahrtsherren, sonntags immer in ihrer alten Seefahrtsrobe gekleidet, die schnasseln, klönen und das Latein der Seebären tauschen. Kapitäne zu Land statt Kapitäne zu Wasser. Waisen der Seefahrt. Auf einer Liege vor einer Wand mit Seefahrtslisten, Kalendern, Fotografien und angegilbten Zeichnungen von Schiffen, eine kreisrunde Uhr, die das Zeitliche nicht mehr bestimmen kann, an einem mit heller Tischdecke bezogenen Tisch. Auf ihm ein Fernglas, zwei Aschenbecher, ein Zettelkasten, ein dreiarmiger Glaskerzenhalter mit himmelblauen Kerzen und diese unübersehbar große Messingglocke. Bier hole ich mir aus dem Kasten an der Tür. Ich stoße aufs Leben an und setze mich, um hier zu schweigen, mich der soliden Stimmung im Raum hinzugeben, die hin und wieder durch den Ruf nach Herbert, von außerhalb der gemütlichen Hütte, gestört wird. Herbert zieht seinen Kopf ein wie vor einem Hammerschlag. Au backe, da ist sie ja. Die Frau ruft ihrem Mann in der Hütte zu, dass sie in der Stube zu Hause auch eine herrliche Sitzgarnitur hätten. Und weg ist Herbert, hinaus und auf seinem Fahrrad, das er wieder nicht abseits, sondern vor dem Eingang abgestellt hat. Fünf Jahre lebe ich auf dem Land, unbehelligt wie in einem Trainingslager auf den einen Moment zu, die Stadt wieder betreten zu können und von ihr aus dann der Mutter entgegengehen.

DIE GLOCKE DES ORTES schlägt. Ein schöner, nahezu perfekter Ton, dieser Glockenklang. Für meine Verhältnisse spät in den Tag hinein erwacht, der wechselhaft und leicht windig werden soll und in der Tendenz zu warm für die Jahreszeit ist, sieht mich die große Lebensaufgabe, mein Mutterbesuchsvorhaben, müde, nahezu träge im Raum. Ich wasche mich. Ich kämme mein Haar. Ich schlurfe in die Arbeitsecke, wo Stühle um den Tisch gerückt zum gemütlichen Eckchen werden. Ich trinke Kaffee. Ich telefoniere mit einem Freund, suche im Schrank nach frischen Socken, rufe eine Freundin an. Wir reden dieses und jenes. Sie will wissen, wie ich den wichtigen Tag beginne. Wie alle Tage auch, sage ich, versuche Heiterkeit, sage aus dem Kopf eine Sequenz von Ulrich von Hutten auf: Noch einmal ruf ich keiner hier der mir zum Sturme lauf sei dann ists recht dann stehts bei mir frisch drauf, verabschiede mich, lege auf, bin im Badezimmer überm Waschbecken. Was hast du getan, dich zu wappnen, frage ich mich am Spiegel. Harold and Maude angesehen, antworte ich mir. Der Film mit dem Typen, der einen Jaguar E von seiner Mutter geschenkt bekommt, ihn in einen schwarzen Leichenwagen verwandelt, eine echte Spitzenszene. Und dieser Junge selbst, dieses einsame Sorgenkind in Utah, das seinen Vater im Alter von zwölf Jahren verliert, ihn als Selbstmordleiche im Haushalt vorgefunden hat. Ich lebe wie er in der Vorstellung, die Zeit zu überholen. Als könnte ich meine verhinderte, nie stattgehabte Kindheit mir nix, dir nix simulieren und das nicht mehr zu ermöglichende Leben mit Leben erfüllen.

All meinen Taten gehen unzählige innere Monologe voran. Alles wie bei einer Kuh, einem Ochsen vorgekaut zwischen sieben Mägen zur Verdauung gebracht, ehe die Gedanken im Kopf raus dürfen, freigegeben sind, auslaufen und springen wie kleine Kälberlein. Ich habe allein mit mir Dinge zu bereden, die von mir zu mir besprochen werden wollen. Es ist daran nichts Ungewöhnliches. Ich kann mit mir lange vorm Spiegel stehen, zu mir sprechen. Es reden mit mir, wenn ich scheinbar so aussehe, als rede ich mit mir allein, zusätzliche, mir mitunter völlig neuartige, gänzlich fremde Stimmen auf mich ein, dass ich mich gezwungen sehe, zeitweise völlig zu verstummen und die Stimmen in mir miteinander diskutieren lasse. Ich stehe dann unerklärliche Momente vor dem Spiegel, die Arme steif ausgestreckt, die Hände auf dem Waschbeckenrand und kann mich nicht ermächtigen, nach Belieben mich einzumischen, Einhalt zu gebieten, um endlich mit mir Sachen zu bereden, die dem Augenblick wichtig sind, wie zum Beispiel die Mutterfahrt in Kürze. Ich stehe vor dem Spiegel und blicke mich von unten her streng an und werde den Eindruck nicht los, dass ich unwichtig bin, dass das Durcheinander im Kopf den Ton angibt, wo unsinnig, sinnlos um Lappalien gestritten wird, die nichts, aber auch gar nichts mit mir zu schaffen haben. Die morgendlichen Kopfdebatten. Der Tonfall. Mit welcher Stimme rede ich, wenn sie im Wortsalat unterzugehen droht, ich mich aufs Wort verstehe? Ein Fremder, sähe er mich so vor dem Spiegel, würde unsicher abwarten und sich verwundern, kopfschüttelnd abgehen und nicht wissen, was er gesehen hat. Ich lasse die Stimmen in mir tönen und halte aus, bis der eigene Mund die Möglichkeit erhält zu sprechen. Am Mit-sich-Selbstgespräche-Führen interessieren mich die Formen von Sprachfindung. Ich mag zum Beispiel Stotterer, ihre Konzentration aufs Wort. Alle Menschen sollten stottern. Alle Menschen sollten sich wie der Stotterer um die eine Silbe, das eine Wort, den einen Satz mühen. Der Stotterer strebt Genauigkeit an. Wieso denke ich das alles vor meiner Abreise, frage ich mich im Spiegel und schweige dazu, betrachte meine Haut, die Falten um die Augen herum, die Form der Lippen, Augenbrauen. Ich sehe mich an wie nie zuvor im Leben und bin mir wie nie zuvor meiner Person so unsicher. Vor der Abfahrt rufe ich meine kleine Schwester an, um sie zu informieren, dass ich nun doch zur Mutter fahre. Sie sieht sich vom Staat zwangsbehandelt und will vom Staat eine Entschädigung. Sie spricht von Verschleppung, Unrecht, das ihr widerfahren ist. Die Mutter spielt für sie keine Rolle. Die Mutter hat uns nicht gebraucht, sagt sie. Das ist Verrat. Man muss eine solche Person nicht besuchen. Dann bricht sie das Gespräch ab.

Ich sitze im Auto. Ich mache mich auf. Ich gehe der Sache nach. Ich bin allein. Ich fahre zum Mutterort. Ich lange dort an. Ich sehe mich um. Ich taste mich vor. Ich kann mir sagen, dass ich in puncto Mutternndung gekommen bin und erst einmal recherchiere, um Übersicht und Einblick zu erhalten und dann genauer hinzusehen. Mit Leuten reden, sitzen, sprechen. Mit niemandem sonst Kontakt haben. Notieren. Mit all meinen wachen Sinnen aufschreiben, was mir durch den Kopf schießt, mein Hirn registriert; die Fremdheit der Mutter; die inneren seelischen Brennstäbe. Dass mich nicht Zorn lenkt. Ich kann mich nicht auf die Autofahrt konzentrieren. Ich muss auf einen Parkplatz fahren, den Motor abschalten, abspannen, ausruhen, mir gut zureden, dass ich nicht ausraste, ein Verkehrschaos anrichte.

DER MUTTER NACH FÜNF JAHRZEHNTEN die Hand geben bereitet mir in Gedanken schon Mühe genug. Die immer wiederkehrenden Themen Becketts. Ein nackter Held liegt mit Riemen an seinen Schaukelstuhl gefesselt, ein anderer Held wird im Rollstuhl herumgefahren, der nächste ist bis zum Hals eingebettet, steckt in einem Haufen aus Erde als Symbol des nie gelebten Lebens ohne die verfluchten Erzeuger. Das isolierte Ich, die absurden Verstümmelungen des tragikomischen Clowns. Das brüchige Glück der Erinnerung. Das abstrakte Dasein in lautloser Leere. Leben in luftloser Dunkelheit. Der raumlose, zeitlose Endzeitzustand. Der in Erstarrung gefangene, absterbende Körper. Ich gebe der Mutter die Hand und komme mir wie der Versager vor. Ich gebe der Mutter nicht die Hand, esse nicht von ihrem Teller, gehe sie nichts an, wie sie mich nichts angehen soll und fremd mir bleiben, als namenloser Portier in dem Hotel unserer Beziehung.

Es SIND ZEITLEBENS Personen um mich herum, die Interesse an meinem Waisensein bekunden. Ich soll erzählen, mein Herz freilegen, alles aussagen, mich von der Last befreien. Man horcht mich zur Mutter aus und schont mich, weil man meint, dass die Waise zu schonen ist. Ich bin über fünfzig Jahre. Ich werde in wenigen Tagen die Mutter zum ersten Mal im Leben sehen. Wir werden uns angeblickt haben, damals, als sie und ich Mutter und Kind waren und auch in Blickverbindung gestanden haben, bis zu jenem Tag, als die Verbindung dann gekappt worden ist, alle Leinen zerschnitten wurden, es keinen Mutterhalt mehr für das verstoßene Kind, das Baby, das von seinen Strippen losgesagte Marionettenkind gab. Ich habe die mobile Nummer der Frau gespeichert, die meine Mutter ist und die Bezeichnung nicht verdient. Ich weiß die Adresse. Ich mache mich aber nicht auf. Beinahe drei Jahre zögere ich, rede mir ein, ich bereitete alles gründlich vor, mache mich für das Treffen fit und weiß, dass ich die Mutterthematik insgesamt nicht abarbeiten kann, wie kein Mensch die verlorene Kindheit mit Gewinn für sich umtauschen wird. Ich bleibe das mangelhafte Geschöpf, das ich bin. Die mutterlose Person. Die unausgereifte Waise, der unvollständige Mensch. Das begonnene Wesen mit all seinen unerforschten Regionen, die Unmündigkeit in Person, die sich zu sondieren hat. Es kommt zu keinem Glücks- und Sicherheitsgefühl, wenn ich mich auf dem Weg zur Mutter sehe. Ich sollte nicht auf derartige Spukgespinste achten, mich besser auf die eigene Kraft orientieren, der Missachtung mit Missachtung begegnen, bespreche ich mich und will der Verachtung, Ablehnung, lauten Lästerung meiner Person aus der (im heilenden Sinne des Wortes verrückten Ordnung) mit konsequenter Ignoranz begegnen. Menschliche Leere. Totes Hirn. Kranke Herausforderung. Schädelkot. Ich sehe mich herausgefordert, in Trab gehalten, ununterbrochen beschäftigt, seit ich mich nicht mehr so ablehnend und feindlich zur Mutter verhalte, zur Mutter mütterlich denke und in die Vergangenheit einfahre wie in einen Schacht, ein Bergwerk, eine stillgelegte Grube. Klatschnasse Gänge. Karges Licht. Feuchter Untergrund. Dunkle Seitengedanken. Hohe leere Höhlen und beängstigende Nebengänge, wie mitten in einen Schlangenbauch geführt, werde ich mich eher verdauen und ausscheiden, ohne je bei der Mutter anzulangen.

Nach dem grausigen Fund einer verwesten Kinderleiche im niedersächsischen Vechta hat die Polizei die Mutter des Kindes ermittelt und festgenommen. Es handele sich um eine 24 Jahre alte alleinstehende Frau aus Vechta, teilte die Polizei in Oldenburg am Montagabend mit. Die Obduktion habe ergeben, dass es sich bei dem am Samstag im Wald entdeckten toten Säugling um einen Jungen handelt. Die Frau soll das Kind bereits im November 2007 zur Welt gebracht haben. Weitere Untersuchungen sollen klären, ob das Kind zum Zeitpunkt der Geburt noch gelebt hat. Die Frau wurde in der Nacht zum Dienstag weiter vernommen. Wie die Polizei erklärte, hätten Beweismittel am Fundort des toten Säuglings die Fahnder auf die Spur der Mutter gebracht. Ob die Frau sich zu den Umständen der Geburt und dem Aussetzen des Kindes äußerte, konnte der Polizeisprecher wegen der noch laufenden Vernehmung der 24-Jährigen nicht sagen. Der Zustand des bereits vor Monaten gestorbenen Kindes habe die Ermittlungen erschwert. Der verweste Säugling war am vergangenen Samstag eingewickelt in ein Handtuch und in einer Sporttasche verpackt am Rande eines Weges von Spaziergängern gefunden worden. Die Leiche lag etwa 50 Meter von einem befestigten Weg entfernt im Wald.

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