Peter Wawerzinek - Rabenliebe Страница 41

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Peter Wawerzinek - Rabenliebe

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Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste — nach jahrelanger Veröffentlichungspause — einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

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ICH BIN IN MEINER Geburtsstadt unterwegs. Ich frage mich, wie sie wohl ausgesehen haben mag, bevor die Mutter mit mir schwanger ging, als sie noch zu den Kindern gehörte, die Städte in Schutt fallen sahen, brennende Häuser auf ihrer Flucht am Wegesrand miterlebt hat. Kinderaugen, die den Tod sehen. Rauch steigt aus Ruinen. Todesgeruch liegt in ihren Nasen. Ich denke mir eine Mutter auf der Flucht mit ihrer Großmutter, für die sie anschaffen muss, was anzuscharren geht. Vielleicht geht sie zu den Männern im Hafen. Vielleicht hat sie eine Partnerin gefunden, eine Freundin durch dick und dünn. Tote Mütter. Gefallene Väter. Verschollene. Auf der Flucht umgekommene Verwandte. Frauen, die zur Trümmerfrau werden, Hand anlegen, den Kriegsschutt wegräumen. Abgearbeitete Hände. Ausgemergelte Körper. Kalter Wind pfeift ihnen um die Ohren. Die ersehnte Welt ist eine ferne, fremde Welt. Dem Sammellager entkommen, zieht es die Muttergöre zum Hafen. Es riecht am Hafen nach Teer und Gummi, Brand und Verwesung, Abwasser, Gärung, Gammel. Nicht einmal zur Nacht legen sich die Gerüche. Mit staunenden Augen erkundet sie das Areal, ist ergriffen, ihres Lebens froh, nicht aussortiert und abgetrennt von der Gruppe worden zu sein, nicht abtransportiert, nicht umgekommen, sondern angekommen, dem Heer der Ungezählten, Verschwundenen, Verschollenen, Verschüttgegangenen entkommen. Das erstaunte, entzückte junge Wesen, das die Hafenanlage erobert, den Verkehr mag, die Gleise, Bahnen, Kutschen, Laster, Hütten und Kaianlagen, Gitter, Rampen. Große Schiffe fahren ein. Lautes Hupen lockt die Menschen, zu ihnen aufzuschauen. Sie fahren an Brandwänden vorbei, zerschossenen Mauern, aus der Branderde ragenden Stümpfen. Leere, wo einst das Schlafzimmer stand, sich Küche und Speisekammer befanden. Verkohlte Tapeten, zerschlagene Kacheln, bedrohliche Reste einstiger Balken. Das warnende Schild, das Kindern rät, fernzubleiben, das gefährliche Gelände nicht als Spielgelände zu betreten, wird ignoriert. Die Muttergöre kann nicht lesen noch schreiben. Alles was vorhanden ist, steht ihr zur Verfügung. Riesige Abenteuerspielplätze. Lockende Mauervorsprünge. Klaffende Klüfte, tiefe Gräben, unendliche, unwägbare Ebenen, Schieflagen, Halden, Spalten, die zu überwinden lohnen und ein neues Leben nach dem alten Leben verheißen. Gefahr macht Mut. Mit einigem Geschick ist jedes Sperrgebiet zu überwinden. Wie herrlich man sich belohnt sieht. Rostige, ausgebrannte, zerbombte Maschinenteile. Ausrangierte Fahrzeuge, große Tanks, hohe Anhänger, zerfetzte Panzerwagen. Geröll und Gerumpel auf den Treppenstufen in den verschütteten Kellerengen, Nischen, Ecken, Winkeln, wo es vergrabene, ausgespülte, in Asche gelegte, vom Wind wieder freigelegte Kleidungsstücke zu ergattern gibt, Dokumente, Orden, Zeitungsausschnitte, alte Fotografien, Briefe mit Zeichnungen, Karten am Grunde der ersten Baugrube, hinter der provisorisch abgestützten Fassade, im zersplitterten Gewächshaus, unter Ballen Stroh.

Überall Transparente, deren Wortmeldungen das Mutterkind nichts angehen. Schlagworte des Siegs. Das große Niewieder. Losungen für den Aufbau und einen Sozialismus als Zukunftsversprechen. Die Autos knattern und stinken, puffen und knallen ohrenbetäubend laut, lauter als Fliegerbomben, an die man sich gewöhnt hat, vor deren Krawall einem nicht das Herz stehen bleibt. Offene, geschlossene, durchlöcherte, rostige Karossen, Vorkriegsmodelle mit seltsamsten Vorrichtungen bestückt. Und immer wieder Wagen darunter, so erstaunlich gut im Lack befindlich wie nagelneue Automobile, denen kein Krieg was anhaben konnte. Dunkle Wagen, von einem Polizeimotorrad angeführt, das warnende Signale ausstößt. Männer in ihnen, die einen nichts angehen, wenn man zu den Leuten gehört, die um die erloschene Feuerstelle sitzen, sich warme Finger holen, in der Asche nach Kartoffelschalen suchen.

Ich stelle mir trotz der Not ein heiteres Rostock vor. Es bimmeln die Straßenbahnen so lieblich. Die Leute sind mit Fahrrädern unterwegs, umkurven zahllose Schlaglöcher. Der Hafen besteht aus Hämmern, Dröhnen, Rattern, Quietschen, Zischen, Pochen. Ruhe zieht nur für wenige Stunden ein. Mit dem Morgengrauen sind erste Vögel zu vernehmen. Elstern krächzen. Spatzen tschilpen. Die Amsel singt, als hätte es niemals Krieg gegeben. Schöne weiße Schwäne fliegen im stolzen Keil zum nahen Hafenwasser. In den Wintern ist es bitter kalt. Man hüllt sich in Decke, Pelz, Mütze, Handschuh und Mantel. Es wird einem trotzdem nicht warm, nicht von der dünnen Suppe aus der Armenküche. An Kartoffelbrei ist lange nicht zu denken. Aber immerhin, man hat es besser als die Blinden, Beinlosen, Angeschossenen, Verunstalteten, Heimatlosen und die irren Soldaten, die steif gefroren aufgefunden wurden und hinübergebracht in die Welt, in der sie stören, durch die sie irren. Ihre Krücken, Rollbretter, Gehhilfen, Knieschützer, Handschoner und Prothesen klaut man ihnen, noch während sie im Todeskampf sind. Man bemächtigt sich der brauchbaren Kleidung des Sterbenden. Sicherheitsnadeln gelten als Jagdtrophäe. Draußen vor den Toren, tief im Land, in den großen deutschen Städten, stehen sich die Streitkräfte in Fronten gegenüber. Der heiße Krieg ist in den kalten Krieg hinübergewechselt. Die Lebensmittel sind rationiert. Dem Menschen werden tausend Kalorien am Tage zugestanden. Den Restanteil für das Leben erwirbt der Mensch sich auf dem Schwarzmarkt. Wenn Razzia ist, wird man alles los, oder es gelingt einem, die Ordnungshüter zu schmieren. Mal gibt es Strom, dann wieder lange nicht. Einfallsreichtum ist gefragt. Die Leute schwärmen aus. Ein Volk geht weite Wege über Land, um bei den Bauern Nahrung gegen letztes Hab und Gut einzutauschen. Was in der Welt geschieht, ist zu erfahren, wenn man ein Radio hat. Ansonsten bleiben einem die Lautsprecher an den Laternenpfählen. Die Menschen tragen lustige Hüte auf ihren Köpfen. Männer sieht man in Anzüge gesteckt, Frauen in Röcke gehüllt. Unter den Blusen ahnt man das neue kostbare Korsett, den vom Fremden überreichten Büstenhalter. Immer öfters ist da am Bein ein ausländisches Strumpfband zu sehen. Ein Mann mit schwarzem Schnurrbart lächelt und bespricht eine Frau, die seinen Akzent mag, den Kopf senkt, den Kopf hebt, den Oberkörper hin und her wiegt, die Augen verdreht und mit ihm geht.

Die Mutter weiß das Wort Matrose auf Franzose zu reimen, weiß, was sie vom Engländer, vom Russen und Amerikaner erwarten darf, kennt mit Sicherheit die Extraläden auf den Kasernenhöfen, die Kinos von innen, sieht lustige Zeichentrick- oder Liebesfilme. Die Männer rufen und pfeifen und schnalzen mit ihren Zungen der Muttergöre hinterher, die keine Schönheit ist, nicht einmal das gewisse Etwas präsentiert, aber nahe genug am Hafen wohnt. Am Hafen ist die Zeit für Gefühle knapp. Man lebt von der schnellen Liebe, dem flinken Geschlechtsakt, ausgeführt ohne Flirt und Vorspiel. Es kommt mit den Männern im Hafen zu keinerlei Heimlichkeit. Man muss sie machen lassen, und sie verrichten rasch, wonach ihnen der Sinn steht. Man sieht sich anschließend dafür ausgelöst, mit Dingen beschenkt, die rar sind im Land; für nichts als das Versprechen, beim nächsten Mal wieder pünktlich da zu sein, gleiche Stelle, Uhrzeit. Es sind so viele Männer fern ihrer Heimat am Hafen unterwegs, weit weg von Frau und Kind, wie sie sagen und den Familien, an die sie immerfort denken, zu denen sie zurückwollen, je eher, desto besser. So also wird die Mutter mit dem halben Stück französische Butter, von dem sie sich klugerweise zuvor die Hälfte selber zugeteilt hat, bei der kranken Großmutter vorstellig. Die Großmutter schickt das Mädchen los, die Hälfte der Hälfte beim Händler um die Ecke gegen Mehl einzutauschen. Mehl, das man dann für den Umtausch von Zucker, Zigaretten verwendet. Es gibt die Dinge allesamt, von denen gesagt wird, dass es sie nicht gibt. Die Händler feilschen nicht. Die Leute stehen Schlange. Was kümmert die Vorschrift, Satzung. Es kommt zu Zank und Streit um Geringfügigkeit. Die Kinder adelt ein Kaugummi, ein Stück Bruchschokolade.

Als vergesslich, aber ehrlich erwies sich ein Mann, der eine Geldbörse in einer Telefonzelle in San Francisco gefunden hatte. Als er sie zurückgeben wollte, war der ursprüngliche Besitzer bereits seit vierzig Jahren tot. So gelangte das Paket mit der Brieftasche in die Hände seines Sohnes, der in derselben Polizeistation arbeitet, in der einst auch sein Vater angestellt war, berichtete die örtliche Presse. Der Finder schrieb, er habe die Geldbörse 1951 gefunden. Da er damals unterwegs gewesen sei und keine Zeit hatte, zum Fundbüro zu gehen, habe er sie in seine Tasche gesteckt. Dann habe er einen Unfall gehabt und das Portemonnaie lange vergessen. Nun habe er es wiedergefunden und wolle es endlich zurückgeben. Er ersetzte sogar die sechzig Dollar, die er damals in der Brieftasche gefunden hatte. Der Sohn zeigte sich gerührt über die Ehrlichkeit und darüber, dass er in der Brieftasche einen Ausweis seines Vaters mit einem Bild von 1942 fand.

WAS WÄRE, WENN, denkt es in mir, ich nicht in Heimen, sondern unter schlimmen Umständen bei Muttervater und in der großen Hansestadt herangewachsen wäre, mir Rostock als Unterstand geblieben wäre, die Stadt mir zu Füßen gelegen hätte, ich sie mir Stück um Stück erobert hätte haben können und mit mir geschehen wäre, was mir so nicht vergönnt war? Oft genug habe ich mir ausgemalt, wie anders mein Leben ausgefallen wäre, in meiner, in einer richtigen Familie, mit richtigen Verwandten zur Seite einer Mutter, eines Vaters und echter Geschwister, statt verlassen, den Organen überantwortet, in staatlichen Heimen untergekommen und eben nicht am großen Stadthafen von Rostock aufgewachsen zu sein, wo es weites Flächengelände gibt, hohe Zauneinheiten, Wälle, Absperrungen, Gebäude zu erkunden. Ganz anders als die kleine naturbelassene Bucht, der mickrige Fischereihafen, der mir im Dorf als Schulheimkind und Adoptionsjunge zur Verfügung stand. Wie wäre ich doch viel lieber zwischen den enormen Schuttbergen, Müllhaufen, Kisten und Tonnen aufgewachsen, zuhauf gestapelt, zu hohen, eckigen Türmen, wäre der spielende Abenteuerjunge im Rostocker Hafen gewesen, wo dicke Kabel liegen, die der stärkste Mann der Welt nicht anzuheben vermag, schimmernde Schmierpfützen zu überspringen sind, Rost und Rohre das Material für waghalsigeres Spiel darstellten. Gitter. Schienen. Stränge. Lokomotiven. Schranken, die dich einladen, sich mit ihnen ins Verhältnis zu setzen, deine Kräfte an ihnen zu messen. Mit altmodischen Rollschuhen an meinen Füßen sehe ich mich am langen Kai Fahrt entwickeln und eine recht gute Figur dabei machen. Auf Rollen die gesamte Kindheit hindurch unterwegs sein. Immer wieder am großen Hafen, um mir jeden Tag neuerlich die Neugierlöcher gut zu stopfen. Was für eine tolle Kindheit? Nahe dem Brackwasser, von Schweißerblitzen umrahmt auf dem Bauch liegen und Glaskugeln rollen lassen, um aufzuspringen, loszuwetzen, wenn lautes Hupen von großen Pötten Langweile und Spiel unterbrechen. Gegen das Sonnenlicht blinzeln. Nur Schatten und riesige Schemen der Riesen sehen. Auf die Knie fallen. Auf Knien durch Schmiere und Öl rutschen. Sich einsauen und die Kleidung an rostigen Kanten schlitzen. Sich blaue Flecken, Beulen und Wunden holen. Und die Mutter hätte geschimpft, die Sachen wieder repariert und ausgewaschen.

GEGENÜBER DEM HAUS der Schifffahrt, in der Passage, wo ich das Licht der Welt erblickt haben soll, befindet sich ein städtisches Kino, das mir durch seine von Hand gemalten Plakate in Erinnerung bleibt. Ich bin, wenn ich in Rostock war, stets dorthin gegangen und lange stehen geblieben und habe den Männern zugeschaut, die handgearbeitete Filmplakate anbrachten. Ich bin danach zu dem Haus gegangen, das nie mein Mutterhaus geworden ist. Ich nehme den Fahrstuhl nach hoch oben, wo ich ein Aussichtsfenster weiß, als wäre ich nie fort gewesen. Ich stütze die Ellenbogen auf, richte den Blick hinab auf den städtischen Verkehr, die Lichter, die sich unterhalb als eine rote, gleißende, leuchtende Schlange bewegen, aufeinander zu, aneinander vorbei, voneinander weg. Lichter, die vor den Augen verschwimmen, Mischfarbenmatsch werden. Ampeln, die warnend blinken. Fernes Hupen. Straßenbahnquietschen. Die Symphonie einer verkehrsreichen Innenstadt. Am Schaukasten der Tageszeitung drängen sich die Leute, die für Zeitung kein Geld ausgeben können, nicht aber auf das tägliche Zeitungslesen verzichten wollen. Hälse recken sich. Eine Menschentraube dicht beisammen. Wenn einer sich aus ihr löst, rücken die anderen zusammen. Immer neue Leute drängen von hinten hinzu. Wort für Wort. Zeile für Zeile wird das Blatt gelesen. Man macht sich Notizen, um die Bekanntgabe schwarz auf weiß mit sich zu tragen. Man redet wild und heftig gegeneinander, wenn da was nicht klar ist. Jemand schimpft, wird bestätigt. Jemand lacht, wird abgelehnt und für irre erklärt. Vom Markt her ist eine Stimme zu vernehmen. Um die Stimme lauter menschliche Rückenansichten, zum Kreis um die Stimme gruppiert, auf Zehenspitzen oder hüpfend, im Versuch, den Mann zu der lockenden Stimme zu entdecken. Notfalls werden Kinder animiert, sich auf alle viere zu begeben und kriechend, bäuchlings liegend, herauszubekommen, worum es im Zentrum des Ringes aus menschlichen Rücken geht, wovon die Stimme den Leuten spricht, was sie anpreist. Der Halbkreis aus Rücken dezimiert sich plötzlich. Ein Bus hält. Seine Türen öffnen sich geräuschvoll. Leute steigen aus, andere Fahrgäste besteigen das Gefährt. Die Stimme ist aus. Der Mann, zu dem die Stimme gehört, wird sichtbar. Der Bus fährt ab. Die Stimme setzt ihren Gesang fort. Der Kreis bildet sich erneut um den Mann, der, wie zu sehen war, nichts als eine Kiste hochkant vor sich aufgestellt hat, aus welcher hervor er diebstahlsichere Ledersäcke präsentiert, um den Hals zu legen, um die Hüfte zu binden. Der Mann aber stapelt seine Münzen auf dem Rand der Kiste.

Ich stelle mir Lastkraftwagen mit Gestell und derben Planen vor. Auf der Ladefläche dicht aneinandergedrängt die Glückseligen, die mitgenommen wurden, Platz gefunden hatten auf den Rand- und Mittelsitzplatzreihen, nicht stehen und sich hin- und herschleudern zu lassen brauchten. Diejenigen an der Klappe waren gut dran und konnten sich mit Aussichten erfreuen. Die drinnen gepfercht hockten, befiel Übelkeit, durch Dunkel und Rütteln des Lasters ausgelöst. Die Plane war mit einiger Fingerfertigkeit aus der Halterung zu lösen. Die Lastkraftwagenfahrer sahen es nicht gern, hielten die Wagen an, schlossen die Plane wieder, drohten alle von der Ladefläche zu werfen, wenn es noch einmal vorkommen sollte, dass eine Plane emporfährt und im Winde flattert. Man konnte sie aufrollen, den Kopf durchzustecken. Kein größeres Vergnügen zu jener Zeit, als dergestalt durch eine Kleinstadt zu fahren, den Mädchen zuzurufen, sie in laute Gesänge einzubeziehen, hinter ihnen herzubrausen, sie zu erschrecken, dass sie kreischen und schimpfen und dir dann doch freudig zuwinken oder einen Vogel an ihre Stirn tippen.

ICH SEHE DIE MUTTER als kleines Mädchen. Zehn Jahre ist sie, leichtgläubig, naiv, würde man höflich sagen, oder auch schwer von Begriff und antriebsarm. Ihre Freundin dagegen jünger, älter, ist von schlauerer Art, aus der Stadt, nicht vom Dorf, pfiffig und fröhlich und eher spontan. Eine, die auf Ideen kommt, sich zu helfen weiß, etwas wagt und angeht, die Zähne zusammenbeißt, nicht gleich Schiss hat, notfalls dem Gegenüber in die Weichteile tritt und vor der Flucht nach der runterfallenden Brille schnappt. Mit ihr kann man was erleben, immer ist was los, und wenn man auf dem Rücken liegt, sagt sie, was die Wolken oben am Himmel darstellen, wohin sie unterwegs sind. Ich kann mich in die beiden Mädchen hineinversetzen, sie können unter Deutschen und Russen, Parteiern, Anscheißern, Lehrern ihren Weg machen, von Angst und Hunger befreit eine anständige Jugend erleben. Ich kann sie anstelle der Freundin mit einem älteren Freund zusammenbringen und >es war einmal< vor diese Geschichte setzen. Es waren einst zwei Liebende, die treffen sich Jahre nach dem Krieg und gehen ein Stück durchs Nachkriegsleben. Dann ist das Mädchen schwanger. Die einfältige Trude hat es nicht mitbekommen. Sie wird nicht gewusst haben, der Freund weiß auch nicht, was er mit ihr getan hat. Sie machen es, ohne zu verhüten. Kann sein, dass er sie verlässt, wenn sie es ihm sagt. Kann sein, der junge werdende Vater ist ein angesehener Mann im Hafen, verdient gut, kommt aus einer Familie, die zu ihm steht. Das Mädchen sieht sich von dieser Familie akzeptiert. Das Märchen nimmt seinen Lauf, das gezeugte Kind kann kommen, über Abtreibungsgedanken ist in dieser Geschichte nicht zu berichten.

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